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Kommentare zum Spiegel-Artikel über die Rind-Affäre

Zuerst einmal freut mich, dass die fundamentalistischen Hetzer das Ziel, welches sie mit der Resolution 107 erreichen wollen, wohl nicht erreicht haben. Statt die Wissenschaft zum Schweigen zu bringen, erreichten sie das Gegenteil: Vielleicht zum ersten Mal überhaupt erfährt das breitere Publikum, was man bisher nur zwischen den Zeilen in den Originalarbeiten finden konnte - dass die Folgen sexuellen Missbrauchs weit überschätzt werden, und dass es eine Menge sexueller Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen gibt, die von den Kindern positiv erlebt werden.

Zu hoffen ist, dass die amerikanischen Fundamentalisten mit der Resolution 107 zu weit gegangen sind, und wenn nicht Amerika, dann wenigstens Europa aufschreckt, wo man mit den besten Vorsätzen, Kinder zu schützen, landen kann - in einer Gesellschaft, deren Fehleinschätzungen nicht mehr durch eine unabhängige Wissenschaft korrigiert werden können, da diese nur noch den Politikern genehme Artikel veröffentlicht. Dieser Artikel könnte ein Anfang sein.

Angesichts dieser positiven Nachricht sind die wenigen Stellen, bei denen ich die Sachlage etwas anders sehe, unerheblich. Trotzdem seien sie hier angeführt:

Zur nochmaligen Überprüfung der Studie

"nochmals überprüfen zu lassen" ist ungenau - sie wurde bereits nochmals überprüft. Am 25. Mai schrieb Fowler, dass die Studie noch einmal von einem Experten in statistischer Analysis begutachtet wurde, der bestätigte, dass sie den augenblicklichen Standards entspricht und die von ihr benutzte Methodologie in Nationalen Instituten für Gesundheit breit angewendet wird:

> Subject: Controversy Regarding APA Journal Article
>
> From: Ray Fowler, Ph.D.
>
> To: DIVOFFICERS@LISTS.APA.ORG
>
> Date: 25 May 1999
...
> Because the article has attracted so much attention, we have carefully
> reviewed the process by which it was approved for publication and the
> soundness of the methodology and analysis. This study passed the
> journal's rigorous peer review process and has, since the controversy,
> been reviewed again by an expert in statistical analysis who affirmed
> that it meets current standards and that the methodology, which is
> widely used by the National Institutes of Health (NIH) to develop
> guidelines, is sound.
...

Zitierweise durch NAMBLA

Im Artikel wird die Art und Weise, in der die Nordamerikanische Man-Boy Love Association (NAMBLA) die Studie zitiert, in ein nicht besonders gutes Licht gerückt: "Nachdrücklich betonen die Autoren, dass sie weder den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen 'billigen', noch dass der Hinweis auf 'nicht feststellbare Folgeschäden' einen Täter von Schuld freispricht. Doch bis zu diesem Bekenntnis drangen offensichtlich nur wenige Leser des APA-Bulletins vor. Lieber zupften sie sich einzelne Aussagen aus der Studie heraus, um sie erbost zu zerpfücken oder aber begeistert zu feiern. So zitierte die pädophile 'Man-Boy Love Association' Ende letzten Jahres auf ihrer Website die Studie ..."

Dass man bei NAMBLA die Arbeit nur oberflächlich gelesen habe, ist allerdings nicht offensichtlich, sondern extrem unwahrscheinlich. Beim Lesen nicht weit vorgedrungen zu sein scheint eher der Autor: bereits unter dem Link "About NAMBLA" auf der oben erwähnten Webseite www.nambla.org findet sich auch ein Bekenntnis dieser Organisation gegen sexuellen Missbrauch: "We condemn sexual abuse and all forms of coercion." Die Freude bei den NAMBLA-Mitgliedern über die Studie dürfte also durch das "Bekenntnis" der Autoren kaum getrübt worden sein.

Sicherlich - Medien, die dieses Bekenntnis der Autoren "übersehen" haben, um unterstellen zu können, diese würden sexuellen Missbrauch billigen, gibt es genug. Genau dasselbe trifft leider auch auf Medien zu, die über NAMBLA berichten.

Zur Naivität der Forscher

Der Anfang des Artikels suggeriert mit den Worten "hätte sich wohl keiner ... träumen lassen", "eigentlich ging es doch nur um eine Fleissarbeit" eine ziemliche Naivität der Forscher. Die reale Lage dürfte etwas anders aussehen. Wenn hier jemand naiv ist, dann höchstens der Autor, der hier ein Bild normaler, unzensierter Wissenschaft entwirft.

Die Lage ist eher so, dass nicht nur die Autoren der Studie, sondern auch die Forscher, deren Arbeiten sie begutachtet haben, sehr wohl wissen, worauf man sich einläßt, wenn man laut und deutlich sagt, dass die Folgen von sexuellem Missbrauch weit überschätzt werden. Und die meisten haben beschlossen, die Zahlen so zu kommentieren, dass es kaum auffällt, wie sehr sie dem Dogma widersprechen.

Und so liegt der Sprengstoff in den Zahlen, weit entfernt vom Publikum. Kommentiert werden sie von den Wissenschaftlern so, dass ihr Widerspruch zum Dogma nicht auffällt. Und von den Wissenschaftsjournalisten wird dies so interpretiert, als wenn die Ergebnisse der Wissenschaft dem Dogma entsprechen, oder geradezu das Dogma beweisen würden. Was die Autoren der Studie getan haben, war, diesen Sprengstoff zu sammeln und laut zu sagen, dass diese Zahlen dem Dogma widersprechen.

Dies war sicherlich auch eine Fleissarbeit - vor allem erforderte es aber erheblichen Mut. Es ging weniger darum, die Wahrheit zu finden - eine Wahrheit, die den meisten Wissenschaftlern auf diesem Gebiet durchaus klar sein dürfte. Es ging vielmehr darum, wieviel Wahrheit man sich zu sagen traut. Das Mut erforderlich ist, die Wahrheit zu sagen, gilt übrigens für Deutschland genauso wie für Amerika.

Resume

Die Meta-Analyse von Rind et al. spricht aus, was die, die auf dem Gebiet arbeiten, schon länger wissen aber höchstens zwischen den Zeilen sagen: die Folgen von sexuellem Missbrauch werden weit überschätzt. Die Resolution 107 versucht, sie endgültig zum Schweigen zu bringen. Dies sollten wir zum Anlass nehmen, zu überdenken, ob wir eine unabhängige Wissenschaft haben wollen, die Fehleinschätzungen der Gesellschaft korrigiert, oder Lakaien, die unter dem Label "Wissenschaft" jeden Unsinn der öffentlichen Meinung nachbeten und "begründen".

Wir sollten uns auch ansehen, was in Deutschland schon in dieser Richtung passiert ist. Druck auf Wissenschaftler hat es auch hier genug gegeben - man erinnere sich an die Diskussion um Lautmanns Buch "die Lust am Kind". Haben wir noch eine unabhängige Wissenschaft? Sagen es uns die Wissenschaftler noch, wenn die öffentliche Meinung sich irrt, oder schweigt sie aus Angst vor politischem Druck?

Es ist also höchste Zeit, sich mit der moralischen Zensur in der Forschung über sexuellen Missbrauch auseinanderzusetzen. Wir sollten uns ansehen, was die Zahlen sagen, wenn man den Schleier der moralischen Zensur wegreisst. Wenn erst vor jeder Publikation eines Artikels neben der wissenschaftlichen Begutachtung auch eine Begutachtung der politischen Konformität erfolgt, wie jetzt von der APA versprochen, ist es dazu zu spät - dann bekommen wir nicht einmal mehr die Zahlen.