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Vogel W.

Das stille Lied der Liebe: In einer pädophilen Beziehung müssen beide Partner ihre Zuneigung geheimhalten

in: Leopardi (ed.), Der pädosexuelle Komplex, Berlin, Frankfurt (Main): Foerster, S.100-112 (1988)

[...]

Das Kind als Opfer der Moral

[S. 108:] Wenn das Kind zu einem polizeilichen Verhör aufgrund eines Sexualkontakts geladen wird, weiß es wohl genau, daß damit nicht eine öffentliche Belobigung verbunden ist. Es spürt sehr deutlich, daß es sich in einen Kontakt einließ, der von seiner Umwelt scharf verurteilt wird. Seine natürliche Reaktion darauf ist Verstörtheit und Angst, oder es übernimmt die Meinung seiner Umwelt, um die eingene soziale Integration nicht zu gefährden, und schämt sich im Nachhinein des sexuellen Kontakts.

Der folgende Dialog ist dem Protokoll eines kriminalpolizielichen Verhörs entnommen. Ein 13-jähriger Junge wurde vorgeladen, um etwas zum Schuldvorwurf, der (erwachsenen) Heimerzieher des Jungen habe diesen sexuell mißbraucht, auszusagen.

Frage (des Polizeibeamten): Hat Herr X Dich immer vorher gefragt, wenn Du auf dem Zimmer warst und er Dich anfing, mit den Händen zu betasten und die Kleidung auszuziehen?

Antwort (des Jungen): Ja, er hat meistens vorher gefragt. Später war es jedoch selbstverständlich und ich hatte nichts dagegen. Er konnte bei mir voraussetzen, daß ich immer einverstanden war.

Frage: Hat Herr X Dich gebeten, gegenüber den Schülern oder dem Lehrpersonal nichts von der Freundschaft zu erwähnen?

Antwort: Ich habe dem Herrn X versprochen, kein Wort zu Mitschülern oder sonstigen Personen zu sagen. er hat mich daraufhin angesprochen und wir haben es uns gegenseitig gelobt.

Frage: Würdest Du mit einem anderen Mann ähnliche Handlungen durchführen?

Antwort: Nein, Herr X hat mir gefallen und hat mich auf die Idee gebracht, daß man sich gegenseitg aufgeilen kann. Gewichst habe ich schon früher, dann aber still und heimlich unter der Bettdecke.

Frage: Hast Du aufgrund des Geheimnisses Dich wohl in Deiner Haut gefühlt?

Antwort: Nein, ich hatte immer Angst, daß die ganze Sache herauskommen könnte.

Frage: Meinst Du, daß ein Ausbilder die Kinder erzieht, wenn er sich mit ihnen auf diese Weise beschäftigt?

Antwort: Nein, ich halte es auch nicht für Erziehung, sondern für Sauerei. Mehr möchte ich nicht sagen.

An dieser Stelle schließt das Vernehmungsprotokoll.

Der vernehmende Beamte fühlte sich in diesem Fall bemüßigt, zusätzlich zum Tatgeschehen noch die moralische Frage aufzuwerfen zu müssen. Dadurch geriet der Junge in den Zwang, ein Geschehen, das er zuvor als durchaus positiv erlebt geschildert hatte, am Ende als "Sauerei" zu verwerfen. Daß er danach zu keiner Äußerung mehr zu bewegen war, zeigt wohl die Verlegenheit und das unangenehme Berührtsein, einen Liebeskontakt rechtfertigen zu müssen, wo keinerlei Rechtfertigung erwünscht war.

Die Reaktionen seiner Umgebung (moralisierende Etern, Verwandte, Lehrer, Polizei) geben dem Kind als Zeugen in einem Strafverfahren das Gefühl, in hohem Maß "mitschuldig" zu sein. Es leidet besonders dann unter erheblichen Schuldgefühlen, wenn es offensichtlich Freude am sexuellen Kontakt hatte. Es vermag nicht zu verstehen, daß ein im eigenen Erleben höchst positives Ereignis zum Mittelpunkt eines Verfahrens wird, in dem es nur um Schuld und Strafe geht. Diese Haltung seiner Umgebung, die ausschließlich negative Einschätzung von Werten, die ihm ansonsten positiv vermittelt werden (Zuneigung, Zärtlichkeit, Vertrauen), kann hier eine wirkliche Bedrohung für das Kind darstellen. Es erlebt zudem, daß sein intimes Verhältnis zu einem anderen Menschen zu einem öffentlichen Akt der Inquisition wird.

[...]

[S.111:] Acht von zehn Elternpaaren strafen ihr Kind, wenn sie es beim Doktor-Spielen ertappen. Dadurch lernt das Kind, daß Sexualität etwas Schmutziges, ja Böses sei. Oder aber sie übergehen die kindliche Neugier mit Schweigen oder Ablenkung. Besonders verheerend sind schließlich die elterlichen Strategien gegen die Selbstbefriedigung, die den jungen Menschen ausgerechnet in einer seiner konfliktträchtigsten Lebensphase, der Pubertät, vor schwer lösbare Probleme stellen.