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Sick B.

Die sexuellen Gewaltdelikte oder Der Gegensatz zwischen Verbrechensempirie und Rechtswirklichkeit

Monatsschrift fuer Kriminologie und Strafrechtsreform, Bd. 78 (1995)

Anschr. der Verfaserin: Knollstr. 11, 72072 Tübingen

Einige Auszüge

Empirische Forschungen haben ergeben, daß das Erfordernis von Widerstandshandlungen des Opfers höchst problematisch ist. In vielen Fällen kann das Opfer von vornherein gar keinen Widerstand leisten. Die Opferbefragung von Weis ergab, daß die Gewaltsituation schon während der Tat Schockreaktionen auslöst, die das Opfer lähmen und handlungsunfähig machen. [Feldmann 1992]

Die meisten Frauen [...] werden zu Unterordnung und Friedfertigkeit erzogen. Sie fühlen sich schwach, passiv und unselbständig und haben nicht in gleichem Maße wie Männer gelernt, sich körperlich zur Wehr zu setzen. Widerstand wird deshalb gar nicht erst geleistet oder er wird zu früh aufgegeben, wenn die Schutztechniken des Weinens und Bittens versagen.

Selbst wenn Widerstand geleistet wird, kann dieser den Täter in den meisten Fällen nicht von seinem Vorhaben abbringen. Das belegen neuere Interaktionsforschungen. Körperlicher Widerstand führt eher dazu, daß die gewaltsame Situation eskaliert, weil der Täter dadurch erst zu massiver Gewaltanwendung provoziert wird. Deshalb rät die Polizei in Warnblättern vom Widerstand gegen den Angreifer ab. Am gefährlichsten wird der Widerstand für das Opfer, wenn es eine enge Beziehung zum Täter hat. Je enger die Beziehung zum Opfer, desto größer die Gewaltanwendung des Täters. Körperliche Gegenwehr des Opfers führt zu einer signifikant höheren Verletzungs- und Todesrate.

Vis haud ingrata: verführende oder vergewaltigende Gewalt?

a) Die Auffassung der Rechtssprechung

Die Gerichte gehen davon aus, daß es bestimmte Gewaltformen gibt, die sozialadäquat, mithin erlaubt sind. Die "vis haud ingrata" (nicht unwillkommene Gewalt) als verführende Gewalt im Rahmen des Erobernwollens einer Frau ist straflos (ausgenommen in Fällen des Jugendschutzes gemäß Par. 182 StGB). [...] Vergewaltigung ist für die Rechtssprechung lediglich eine Steigerung der Verführung. [...]

b) Kriminologische Erkenntnisse

[...] Verkannt wird, daß die Interaktionsmuster von Gewalt und Verführung sowohl phänomenologisch als auch kriminologisch völlig unterschiedlich sind und sich beide Tatmittel nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterschieden. Das belegen die Ergebnisse neuerer Interaktionsforschungen. Man hat festgestellt, daß die normale Beziehungsaufnahme zwischen Mann und Frau bis zur sexuellen Vereinigung sehr viele soziokulturell geprägte Einzelschritte umfaßt. Diese Stufenfolge wechselseitiger Auslöser und Reaktionen, die für das normale menschliche Paarungsverhalten charakteristisch ist, setzt bei der Vergewaltigung überhaupt nicht ein, sie wird nicht mal bruchstückhaft verwirklicht. Die üblichen Regeln einer sexuellen Interaktion werden also völlig mißachtet.

Bei der Vergewaltigung tritt das Opfer für den Täter auch nicht als Person in Erscheinung, so daß die Tat weitgehend unabhängig ist von der Attraktivität, dem Alter und dem Charakter der Frau. Ablehnende Signale, auf die innerhalb eines Bezugssystems eine entsprechende Reaktion zu erwarten ist, werden vom Täter entweder nicht wahrgenommen oder ohne jede Rücksicht weggeschoben. [...] Vergewaltigung ist also keine Steigerung der Verführung, sondern ein qualitativ völlig anders zu bewertendes Delikt. [...]

Vom Opferschutz aus betrachtet erscheint die Heraushebung des Vaginalbeischlafes unverständlich, da es zahlreiche sexuelle Gewalthandlungen gibt, die das sexuelle Selbstbestimmungsrecht mindestens ebenso schwer beeinträchtigen, wie z.B. der erzwungene Anal- oder Oralverkehr oder das gewaltsame Einführen von Gegenständen und Körperteilen in Vagina oder Anus. [...] Nach viktimologischen Untersuchungen besitzt der Unterschied von Beischlaf und sonstigen sexuellen Handlungen keine Bedeutung für die Opferschäden: Es ist für die Frau gleichgültig, welche Eintrittspforte der Täter wählt. Traumatisierend ist primär das Eindringen ins Körperinnere.

[Die Auffassung,] daß es sich beim Vergewaltiger (Notzüchter) um einen besonderen kriminologischen Tätertypus handele [...] wurde durch moderne Aggressionsforschung widerlegt. Demnach sind Vergewaltigung und sexuelle Nötigung primär Gewalt- bzw. Aggressionsdelikte und nicht Sexualdelikte. Nur selten ist eine sexuelle Deviation des Täters nachzuweisen. Sexualität ist nur das Mittel, unterdrückte Aggressionen auszuleben. Nicht die Sexualität steht im Vordergrund, sondern die Aggression in Form von Gewalt, die auf Unterwerfung zielt. [...]

Daß sexuelle Gewalt nichts mit Lust bzw. Sexualität zu tun hat, belegt auch die Tatsache, daß Vergewaltigung ein Mittel der Kriegsführung (mit anderen Mitteln, vgl. die entsetzlichen Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien) ist und in totalitären Staaten als Foltermethode eingesetzt wird. Der Penis hat insofern lediglich die Funktion einer Waffe. Auch die Tatsache, daß Frauen unabhängig von Alter und Aussehen Opfer sexueller Gewalt werden und sogar kleine Kinder, Babys und Greisinnen vergewaltigt werden, spricht dafür, daß Vergewaltigung nichts mit Lust im herkömmlichen Sinne zu tun hat.

Bei der Vergewaltigung läßt sich ein Zusammenhang weniger zur Sexualdelinquenz, als vielmehr zur Gewalt- und Eigentumskriminalität herleiten. So beziehen sich die Vorstrafen bei den zum Großteil vorbestraften Vergewaltigern auf Gewalt- bzw. Eigentumsdelikte wie Raub, Körperverletzung oder Diebstahl (Kaiser, Kriminologie, 1988, S. 685). Die Vorstellung, daß es eine kriminelle Karriere vom Exhibitionisten über den Kinderschänder bis hin zum Sexualmörder gebe, läßt sich damit nicht bestätigen. Vielmehr handelt es sich bei den sexuellen Gewaltdelikten weniger um sexuelle Abnormitäten als um eine widerrechtliche Aneignung, so daß die Vergewaltigung vielfach dem räuberischen Diebstahl verwandter ist als einer sexuellen Deviation. (Schorsch, Sexualstraftäter, 1971, S. 200, Baurmann, S. 508, 520 f.; Steinhilper, S. 19)