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Das offizielle Rechtsgut: Die ungestörte sexuelle Entwicklung

in: Schetsche, Zur Problematik der Begründung des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen, MschrKrim 77:4, 1994, pp.203-205

[...] Juristen [stellten sich] schon [...] im 19. Jahrhundert die Frage, was den [...] eigentlich das geschützte Rechtsgut sei. Entsprechend der Abtrennung von den allgemeinen Bestimmungen gegen sexuelle Gewalt wurde argumentiert, daß der Schutz von Kindern in diesem Bereich andere Gründe hätte als der Schutz von Erwachsenen. Befürchtet wurde zunächst in erster Linie eine Schädigung des 'reifenden Körpers' des Kindes:

" Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr werden die Kinder geschützt um ihrer körperlichen Unreife willen. In diesem Lebensalter sind es die besonderen körperlichen Schäden, die die Unzucht nach sich zieht, und an die der Gesetzgeber wohl in erster Linie dachte ..." (Aaron, 1910, S. 6-7 - referiert die Auffassung in der Mitte des 19. Jahrhunderts)

Das 20. Jahrhundert stellte dieser rein körperlichen Schädigung dann die geistig-sittliche an die Seite.

"Denn aus zwei Gründen ist die Jugend zu schützen. Sie ist körperlich noch unentwickelt, und die Vollziehung geschlechtlicher Akte führt oft nachhaltige Schäden herbei; sie ist aber auch sittlich unreif und wird durch vorzeitiges Anreizen der geschlechtlichen Empfindungen in ihrer sittlichen Entwicklung gehemmt und abgelenkt." (Aaron, 1910, S.8)

Das traditionelle juristische Modell, das überhaupt erst zur Entstehung eines besonderen Tatbestandes führte, geht von der Aufgabe des Sexualstrafrechts aus, eine spezielle sittliche Ordnung zu gewährleisten; Fragen der Persönlichkeitsrechte der Normadressaten (wie das Selbstbestimmungsrecht) spielen hier so gut wie keine Rolle. Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern sind danach zu unterbinden, weil sie langfristig negative Folgen für die Sittlichkeit der Gesellschaft haben:

"Das feinere, ausgebildete Denken aber erkennt daneben, daß auchdie sittliche Sphäre des Kindes der Beachtung bedarf: trotz etwaiger eben eingetretener Mannbarkeit ist das Kind als solches zu schützen, damit es nicht sittlich verdorben werde und nicht als Erwachsener unfähig sei, die sittliche Ordnung einzuhalten." (Mittermaier, 1906, S.114-115)

Aus diesem Bemühen, Kinder in die sexuelle Ordnung der Gesellschaft zu integrieren, entstand schließlich das Rechtsgut der "ungestörten sexuellen Entwicklung", das auch bei der Erstellung der heute noch gültigen Fassung des Sexualstrafrechts vom Gesetzgeber als zentral angesehen wurde:

"... so kann das frühe Erleben einer sexuellen Handlung dennoch wenigstens einen auslösenden Faktor für die ungünstige Entwicklung bzw. eine zusätzliche Gefährdung bedeuten, die wegen des hohen Risikos nicht hingenommen werden darf." (Sonderausschuß, 1972, S.35*)

Bis heute dominiert dieser Topos bei der Begründung aller Minderjährige betreffenden Tatbestände des Sexualstrafrechts in den einschlägigen StGB-Kommentaren (Lackner 1991; Lenckner, 1991; Dreher/Tröndle, 1991) ebenso wie im Entwurf des Gesetzgebers zum neuen Par. 182.

[...] Grund für die Ablehnung dieser Kontakte ist somit eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Kausalthese über die sexuelle Normalentwicklung des bürgerlichen Individuums und Ereignisse, die notwendig zu dessen Störung führen. Eine Normbegründung, die mit Behauptungen über Lebenssachverhalte operiert, sich gleichzeitig aber jeder empirischen Überprüfung entzieht, ist beim seit den Strafrechtsreformen der sozial-liberalen Koalition herrschenden Stand der Rationalität und Verwissenschaftlichung der Gesetzgebung (vgl. Lucke, 1988, S. 132 und Schetsche, 1990, S. 248) mehr als problematisch.


Fußnoten

* Eine Feststellung, die - wie Dannecker (1987) in seiner Analyse des damaligen Entscheidungsprozesses zeigt - im Gegensatz zur fast einhelligen Auffassung der angehörten Fachleute stand.