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aus: Schetsche, Zur Problematik der Begründung des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen, MschrKrim 77:4, 1994, pp.211

Entscheidend für die Inakzeptanz der angebotenen Lösungen erscheint mir letztlich der Verzicht auf die Beantwortung der Frage nach der 'sozialen Konstituierung' des erwachsenen Individuums. Tatsächlich vermeiden alle drei Ansätze Ausführungen zu dem Problem, wie (und wann) aus dem Kind der zur selbstbestimmten Sexualität fähige Erwachsene wird. Bei der klassischen strafrechtlichen Lösung verwandelt sich das Kind mit der Vollendung des 14. Lebensjahres plötzlich vom asexuellen zum sexuellen, vom unreifen zum reifen Wesen. Bei Finkelhor und seinen NachfolgerInnen erscheinen in einem bestimmten (nicht begründbaren) Alter schlagartig das Wissen um die Konsequenzen sexueller Interaktionen und die Freiheit JA oder NEIN zu sagen. Nach dem psychoanalytischen Modell erlernt das Individuum die "Sprache der Leidenschaft" anscheinend aufgrund endogener Entwicklung der Libido in der Pubertät, also aufgrund interaktionsloser Triebdynamik.

Demgegenüber weist - als einer der wenigen in der aktuellen Debatte - Honig (1992a, S.30) darauf hin, daß Kinder lernen müssen, "sexuell zu sein und ihre Lüste in einer Geschlechtsidentität zu organisieren." Das Kind wird damit als Individuum charakterisiert, das nicht nur sein Begehren kennen lernen muß, sondern auch dessen Realisierung in die herrschenden sozialen Zuschreibungen und Regeln einzupassen.

"Das heißt: die anfangs diffuse Grenze zwischen Sinnlichkeit und Sexualität, zwischen Erotik, Zärtlichkeit und Spiel - ... - wird im Prozeß des Heranwachsens nach Maßgabe des übergreifenden kulturellen Systems symbolisch-situativ definiert und biographisch gelernt (Honig, 1993, S. 185)

Wenn die angestrebte selbsbestimmte Sexualität des Erwachsenen aber das Ergebnis eines Lernprozesses ist, stellt sich die Frage, von wem Kinder und Jugendliche sexuelles Handeln und seine sozialen Regeln lernen und mit wem sie sexuelle Erfahrungen machen sollen. Anders formuliert: Wie können Kindern sexualbezogene Lernprozesse ermöglicht werden, ohne daß sie dabei von Älteren sexuell ausgebeutet werden?

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