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2. Historisches: Von der schweren Unzucht zum sexuellen Missbrauch

in: Schetsche, Zur Problematik der Begründung des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Kindern und Jugendlichen, MschrKrim 77:4, pp.202-203, 1994

Die Bestimmungen zum Schutz von Kindern im sexuellen Bereich sind - historisch wie aktuell - dadurch charakterisiert, daß Fragen der sexuellen Selbstbestimmung der Betroffenen als 'unbeachtlich' aus dem juristischen Verfahren ausgeklammert werden. Um dieses Konstruktionsprinzip zu verstehen, muß man sich den historischen Prozeß der Herausbildung dieses speziellen Tatbestandes einmal etwas genauer anschauen.

Im Strafrecht der deutschsprachigen Länder hat es bis ins 19. Jahrhundert hinein keinerlei Bestimmungen gegeben, die sich dem Schutz von Kindern beiderlei Geschlechts vor sexuellen Übergriffen widmeten. Vor dem Ende des 16 Jahrhunderts finden sich nicht einmal eigenständige Vorschriften gegen Sexualkontakte Erwachsener mit Kindern.

"Die mittelalterlichen Strafrechtsquellen haben die an Kindern verübte Unzucht nicht unter eine besondere Strafe gestellt. Auch die gemeinrechtlichen Theorien sehen teilweise in den geschlechtlichen Angriffen auf Kinder kein besonderes Verbrechen." (Aaron, 1910, S.1)

[...] Strafbar waren die anale Penetration von Jungen und von Männern als Sodomie; zu den "unbescholtenen Frauenspersonen", die gegen Notzucht geschützt waren, gehörten auch die noch nicht geschlechtsreifen Mädchen; die Bestimmungen zur sog. Blutschande verboten viele Arten intrafamilialer Kontakte. Gesonderte Tatbestände zum Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen wurden dagegen erst im Verlaufe der letzten vier Jahrhunderte geschaffen; dabei lassen sich fünf Entwicklungsstufen unterscheiden:

Erstens wurde für die "nicht mannbaren Mädchen" die Strafe für Notzuchtdelikte erhöht [...]

Zweitens koppelte man die "Mannbarkeit" - wohl aus praktischen Gründen - von der Frage der individuellen Geschlechtsreife ab: Aufgrund eines Durchschnittswerts wurde eine explizite Zahl von Lebensjahren als Grenze festgelegt.

Drittens - und für unseren Zusammenhang entscheident - wurde bei Mädchen unterhalb dieser nun abstrakt bestimmten Altersgrenze die Irrelevanz ihrer Zustimmung zum Beischlaf festgestellt. [...] Erst jetzt schrieb man das Kind als Person fest, dessen Wille auf sexuellem Gebiet rechtlich unbeachtlich zu sein hatte. [...]

Viertens erfolgte - erst im 19. Jahrhundert - die Herausbildung einheitlicher Tatbestände bezüglich Jungen und Mädchen.

Fünftens wurde schließlich von der Notwendigkeit der Penetration abgesehen.[...]