[Base] [Index]

Oerter R.

Moderne Entwicklungspsychologie

Donauwörth (1968)

aus: Baurmann 1983, S. 71-73

[S. 71]

Früher hing man in der Pädagogik und in der Entwicklungspsychologie Stufen- und Phasentheorien an. Bei diesen Theorien wurde angenommen, Kinder entwickelten sich nach einem phylogenetisch festgelegten Plan in Stufen oder Phasen,

So schien die psychische Entwicklung ans Lebensalter gekoppelt und konsequenterweise wurden die Kinder beispielsweise in Jahrgangsklassen möglichst gleich erzogen. Auch die Altersgrenzen zum Schutz der Kinder orientierten sich an solchen Stufentheorien.

An einem einfachen Beispiel kann jedoch verdeutlicht werden, daß bei dieser Denkweise Ursache und Wirkung vertauscht wurde. Weil Kinder lange Zeit behandelt wurden, so als wären sie erst mit sechs Jahren reif fürs Lesenlernen, wurden ihnen auch erst in diesem Alter entsprechende Lernangebote gemacht. Mittlerweile weiß man, daß Kinder schon früher das Lesen erlernen können und daß weiterhin erhebliche individuelle Unterschiede bestehen. Noch unzutreffender wäre die Vorstellung von der [S. 72] kindlichen Entwicklung in Stufen, nähme man als Beispiel komplexeres psychosoziales Verhalten, wie etwa gruppendynamisches oder speziell sexuelles Verhalten.

Mittlerweile hat man in vielen Untersuchungen nachgewiesen, daß eine solche Sicht von menschlichen Entwicklungsstufen falsch ist, denn:

Das bedeutet insgesamt, daß wir immer noch zu sehr von der Fehlanahme ausgehen, daß die kindliche Entwicklung von selbst nach inneren Gesetzmäßigkeiten ablaufe ("Reifung") und daß diese Entwicklung nicht von außen beeinträchtigt werden dürfe. Zusätzlich wird fälschlicherweise angenommen, die psychische Entwicklung sei an bestimmte Altersstufen gebunden, und zwar ohne allzu große individuelle Variationen. Diese feste Bindung an das Lebensalter und körperliche Funktionene wird weitgehend erst künstlich - und zwar von außen! - produziert. Dies kann man besonders deutlich am Problem der Pubertät beobachten. Menschen vor der Pubertät werden gemeinhin als asexuelle Kinder behandelt (und verhalten sich dann auch weitgehend nach diesem Vor-Bild). Menschen nach der Pubertät gelten demgegenüber als sexuelle Wesen. Pubertierende haben Schwierigkeiten, wenn sie so plötzlich in die neue Rolle hineingeworfen werden, ohne daß es ihnen vorher gestattet war, ausführliche Lernerfahrungen [S. 73] dazu zu sammeln. Die Stufentheoretiker sagen dann: "Ja, das sind die typischen Entwicklungsprobleme in der pubertären Phase." Es wird deutlich, die Ursache wird als Wirkung gesehen.

Dies hat Konsequenzen für die Einrichtung von Schutzaltergrenzen, wie sie im Sexualstrafrecht festgelegt wurden. Die kindliche (Sexual)Entwicklung läuft keineswegs wie eine Regressionsgerade stetig von "stark verletzbar" bis "nicht verletzbar".

Die gleiche sexuelle Handlung kann für ein Mädchen im Alter von 5 Jahren als belanglos, später in der Pubertät als traumatisch und im Alter von 13 Jahren als positiv empfunden werden. Diese Empfindung hängt, wie auch die Verfasser des Alternativ-Entwurfs betonen, ganz wesentlich von der psychosozialen Situation des Kindes und von der Reaktion seiner sozialen Umwelt ab. Es ist nicht selbstverständlich, daß Kinder, die im Elternhaus eine Erziehung zur Angst und zu besonders engen sexuellen Einstellungen erlebt haben, durch einen alle Kinder betreffenden allgemeinen Gefährdungstatbestand geschützt werden sollen. Insbesondere nicht, wenn gerade diese Kinder besonders hoch gefährdet sind, durch die aufgebrachte Reaktion ihrer entsetzten Eltern sekundär geschädigt zu werden. Es ist nicht auszuschließen, daß das Sexualstrafrecht hier bedenkliches Erzieherverhalten unterstützt.