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Mrazek D.A.

Science, Politics, and Ethics: Issues in the Study of the Sexual Use of Children

in: Contemporary Psychology, vol. 30 nr. 1 (1985)

director of pediatric psychiatry at the National Jewish Hospital and Research Center, Denver, Colorado


Gisela Bleibtreu-Ehrenberg 1986

Für uns Deutsche, die wir aufgrund unseres Geburtsdatums persönlich an den NS-Greueln meist unschuldig sind und dennoch lebenslang deshalb unter nationaler Scham leiden und Trauerarbeit leisten, weil frühere Generationen Minderheiten gequält und ermordet haben, ist es zutiefst verstörend, feststellen zu müssen, daß es manchmal sogar Juden sind, die sich sexuellen Minderheiten gegenüber verhalten, als handle es sich um Feinde des gesamten Menschengeschlechts. [...] So hat es mich besonders erschüttert, daS der wesentlichste Aspekt der total negativen Kritik von Sandforts Arbeit in der Rezension des jüdischen Autors David A Mrazek in dem Vorwurf besteht, hier wolle eine organisierte Gruppe von Interessierten in "politischer" Weise Einfluß auf die Gesetzgebung nehmen. Die Anführungszeichen stehen deshalb, weil Mrazek offenbar meint, daß der Versuch Betroffener, sich durch Aufklärung der Öffentlichkeit selbst zu entkriminalisieren, in sich verwerflich sei. Die häufig wiederholte Beteuerung, Sandforts Studie sei vor allem "politisch", suggeriert zudem die Vorstellung, deren wissenschaftliche Qualität sei eben deshalb zweifelhaft ("this is more of a political text than a scientific one. It is politically conceived, and its conclusions are directed toward change in legislation".) Wenn Minderheiten das Recht abgesprochen wird, sich politisch zu äußern, wenn der Wunsch dazu schon als verdächtig gilt, müssen gebrannte Kinder wie wir Deutsche uns wundern: Sollen denn bloß Mehrheiten sich zu Rechten äußern dürfen, die sie sich ohnehin nicht streitig machen lassen?

Mrazeks Rezension zeugt von tiefer emotionaler Abscheu gegen das Untersuchungsthema als solches, das Buch sei "provokativ, verstörend, paradox, voll methodologischer Irrtümer, kurzum empörend (outrageous)". Die Kinder, so Mrazek, wissen nicht, was gut für sie ist; eine Gruppe elfjähriger Jungen, die man mit Alkohol, Marihuana, Kokain und Heroin vollgepumpt hat, würde auch sagen, solche Experimente machten mehr Spaß als Hausaufgaben oder häusliche Pflichten ... Ganz abgesehen davon, daß Drogen gesundheitsschädlich sind, die "Schädlichkeit" von Sexualität aber nicht erwiesen ist bzw. in Sandforts Arbeit ja gerade untersucht werden soll, handelt es sich hier schlicht um Rabulistik, nicht um wissenschaftliche Kritik.

Es wird vielmehr jenes bekannte konservativ-orthodoxe Klischee der "normalen" Sexualität bemüht, das in der Vergangenheit schon genug menschliches Leid bereitet hat. Wir lesen: "There is no discussion of the possibility that the illegal sexual contacts might result in the boy's developing a sexual deviation from a more normal heterosexual orientation." Was wäre dann "a less normal orientation"? Zweifellos Homosexualität; hier werden (wie so häufig in Schriften, die sich gegen die Diskussion von Sexualität von Kindern wenden) all jene unheilvollen Vorurteile gegen Homosexualität reaktiviert, die schon zu früheren Zeiten entsetzliches Unheil gestiftet haben und die nun wirklich mittlerweile (nicht zuletzt durch Arbeiten amerikanischer Wissenschaftler) überzeugend widerlegt worden sind. Ich fürchte die Logik der Ausgrenzung, die hier betrieben wird.

[aus dem Vorwort zu Sandfort 1986, S. 10-11]