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Freud S.

Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Theorie

(1910)

Berlin, Verlag Volk und Welt, 1988, Bd.1, S.283-294

[p.290] Nun muß ich aber Ihre Erwartungen allerdings wieder dämpfen. Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muß sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat.

[...] Und doch ist die Situation nicht so trostlos, wie man jetzt meinen sollte. So mächtig auch die Affekte und die Interessen der Menschen sein mögen, das Intellektuelle ist doch auch eine Macht. Nicht gerade diejenige, welche sich zuerst Geltung verschafft, aber um so sicherer am Ende. Die einschneidensten Wahrheiten werden endlich gehört und anerkannt, nachdem sich die durch sie verletzten Interessen und die durch sie geweckten Affekte ausgetobt haben.

[p.292] Denken Sie daran, wie häufig in früheren Zeiten die Hallunzination der heiligen Jungfrau bei Bauernmädchen war. Solange eine solche Erscheinung eine großen Zulauf von Gläubigen, etwa noch die Erbauung einer Kapelle am Gnadenorte zur Folge hatte, war der visionäre Zustand dieser Mädchen einer Beeinflussung unzugänglich. Heute hat selbst die Geistlichkeit ihre Stellung zu diesen Erscheinungen verändert; sie gestattet, daß der Gendarm und der Arzt die Visionärin besuchen, und seitdem erscheint die Jungfrau nur sehr selten.