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Foucault M.

Sexualität und Wahrheit

Suhrkamp, Frankfurt am Main (1983)

[...]

[p.39-40] Der Sex ist zum Einsatz, zum öffentlichen Einsatz zwischen Staat und Individuum geworden; ein ganzer Strang von Diskursen, von Wissen, Analysen und Geboten hat ihn besetzt. Das gilt auch für den Sex der Kinder, von dem man häufig sagt, er sei vom klassischen Zeitalter in ein Dunkel gedrängt worden, aus dem er erst seit dem Drei Abhandlungen oder den segensreichen Ängsten des kleinen Hans wieder habe hervortreten können. Sicher stimmt es, daß eine frühere "Freiheit" der Sprache zwischen Kindern und Erwachsenen oder Schülern und Schulmeistern verschwunden ist. Kein Pädagoge des 17. Jahrhunderts hätte mehr öffentlich - wie Erasmus in seinen Dialogen - seinen Schülern in der Wahl einer guten Prostituierten unterwiesen. Und das schallende Gelächter, das so lange und offenbar in allen sozialen Klassen die frühreife Sexualität der Kinder begleitet hatte, ist nach und nach verstummt. Dennoch handelt es sich keineswegs um ein reines und einfaches Schweigegebot. Es handelt sich eher um ein neues Regime der Diskurse. Man sagt nicht weniger, im Gegenteil. Aber man sagt es anders, es sind andere Leute, die es sagen, von anderen Gesichtspunkten aus und um anderer Wirkungen willen. [...] Es gibt eine Vielzahl von Schweigen, und sie sind integrierter Bestandteil der Strategien, welche die Diskurse tragen und durchkreuzen.

[p.40-41] Man sehe sich die Bildungsanstalten des 18. Jahrhunderts an. Global betrachtet kann man zu dem Eindruck kommen, daß praktisch nicht mehr vom Sex geredet wird. Doch braucht man nur einen Blick auf die architektonischen Einrichtungen, auf die Disziplinarreglements und die gesamte innere Organisation zu werfen: unaufhörlich dreht sich alles um Sex. Die Architekten haben daran gedacht, und zwar ganz ausdrücklich. Die Organisatoren stellen ihn beständig in Rechnung. Alle, die eine gewisse Autorität innehaben, wachen unermüdlich darüber, daß die einmal getroffenen Anordnungen und Vorsichtsmaßnahmen, das Spiel der Strafen und Verantwortlichkeiten unablässig wiederholt und angewendet werden. Der Klassenraum, die Form der Tische, die Gewährung von Ruhepausen, die Unterteilung der Schlafsäle (mit Trennwänden oder ohne, mit Vorhängen oder ohne), die für die Überwachung des Zubettgehen vorgesehenen Regeln, alles das verweist in der beredtesten Weise auf die Sexualität der Kinder. Das was man den internen Diskurs der Institution nennen könnte - der Diskurs, den sie sich selbst hält und den diejenigen halten, die sie funktionieren lassen - beruht zum großen Teilauf der Feststellung, daß diese Sexualität existiert: frühreif, aktiv und permanent.

[p.41-42] Aber es geht noch weiter: der Sex des Kollegiaten ist - in weit stärkerem Maße als der der Jugendlichen im allgemeinen - im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem öffentlichen Problem geworden. Die Ärzte wenden sich an die Anstaltsleiter und Lehrer, erteilen aber auch den Familien ihre Ratschläge; die Pädagogen entwickeln Pläne, die sie den Autoritäten unterbreiten; die Erzieher wenden sich ihren Schülern zu, geben ihnen Empfehlungen oder verfassen Schriften mit Ratschlägen, moralischen oder medizinischen Beispielen für sie. Um den Zögling und seinen Sex herum schießt eine ganze Literatur von Vorschriften, Ratschlägen,Beobachtungen, medizinischen Anweisungen, klinischen Fällen, Reformvorhaben und Plänen für ideale Anstalten aus dem Boden. Mit Basedow und der deutschen "philantropischen" Bewegung hat die Diskursivisierung des Sexes eine beträchtliche Ausdehnung gewonnen. Saltzmann hatte sogar eine Experimentalschule eingerichtet, deren Besonderheit in einer so ausgeklügelten Kontrolle und Erziehung des Sexes bestand, daß es nie zu der universellen Sünde der Jugend kommen sollte.

[p.42] Und in all diesen Maßnahmen sollte das Kind nicht nur das stumme und bewußtlose Objekt von Bemühungen sein, die einzig zwischen den Erwachsenen abgesprochen waren, sondern man zwang ihm einen vernünftigen, begrenzten, anständigen und wahren Diskurs über den Sex auf - eine Art diskursiver Orthopädie. Das große, im Mai 1776 im Philanthropium veranstaltete Fest mag hier zur Illustration dienen. In der Mischform von Prüfung, Floraspielen, Preisverteilung und Musterung war es die erste heilige Kommunion des jugendlichen Sexes und des vernünftigen Diskurses. Um die Erfolge der Sexualerziehung, die man den Schülern angedeihen ließ zu demonstrieren, hatte Basedow alles eingeladen, was Deutschland an Berühmtheiten aufzubieten hatte (Goethe war einer der wenigen gewesen, die der Einladung nicht folgten). Vor versammeltem Publikum stellt Wolke, einer der Lehrer, den Schülern ausgewählte Fragen über die Mysterien des Sexes, der Geburt und der Fortpflanzung; er läßt sie Stiche kommentieren, die eine schwangere Frau, ein Paar, eine Wiege darstellen. Die Antworten sind aufgeklärt, frei von Scham und Zwang. Kein unschickliches Lachen unterbricht sie - außer von Seiten eines erwachsenen Publikums, das offenbar kindischer ist als die Kinder selbst und von Wolke deshalb streng getadelt wird. (J. Schummel, Fritzens Reise nach Dessau (1776), zit. bei A. Pinloche, Geschichte des Philantropinismus, Leipzig 1986, S. 103-109).

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[S. 43-44] Man könnte noch weitere Brennpunkte nennen, die vom 18. oder 19. Jahrhundert an begonnen haben, Diskurse über Sex hervorzubringen. Zunächst die Medizin, auf dem Weg über die "Geisteskrankheiten", dann die Psychiatrie, die zuerst in der "Ausschweifung", dann in der Onanie, in der Unbefriedigtheit und im "Betrug an der Natur" die Ätiologie der Geisteskrankheiten zu suchen beginnt, besonders von dem Augenblick an, wo sie die Gesamtheit der sexuellen Perversionen als ihr ureigenstes Gebiet annektiert; des weiteren die Strafjustiz, die lange Zeit mit der Sexualität vor allem in Gestalt der "ungeheuerlichen" oder widernatürlichen Verbrechen konfrontiert gewesen war, und die sich nun, etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, der kleinlichen Verurteilung der kleinen Verstöße, der geringfügigen Vergehen und unbedeutenden Perversionen abgibt.

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[p.44-45] An einem Tag im Jahre 1867 wird ein Landarbeiter aus dem Dorf Lapcourt, ein etwas einfältiger Mensch, den je nach Jahreszeit mal dieser und mal jener beschäftigt, der aus ein bißchen Mitleid und gegen harte Arbeit mal hier und mal da etwas zu essen bekommt und der in Scheunen und Ställen schläft, angezeigt: am Rande eines Feldes hatte er von einem kleinen Mädchen ein paar Zärtlichkeiten ergattert, wie er es schon früher getan und gesehen hatte, wie alle Burschen und Mädchen um ihn herum es taten, wenn sie am Waldrand oder im Graben der Straße, die nach Saint-Nicolas führt, das Spiel spielten, das man "Dickemilch" nannte. Er wird also von den Eltern beim Bürgermeister des Dorfes angezeigt, der Bürgermeister übergibt ihn den Gendarmen, die führen ihn vor den Richter, welcher ihn anklagt und einem ersten Arzt anehimgibt, dann zwei weiteren Experten, die einen Bericht abfassen und schließlich veröffentlichen. (H. Bonnet et J.Bulard, Rapport medico-legal sur l'etat mental de Ch.J. Jour, 4. Jan. 1868). Die Bedeutung dieser Geschichte? Die liegt gerade in ihrer Kleinheit, darin, daß dieses Alltagsereignis in der dörflichen Sexualität, diese kleinen Lüste hinter den Büschen von einem bestimmten Augenblick an zum Gegenstand nicht bloß einer kollektiven Intoleranz, sondern einer juristischen Aktion, einer medizinischen Intervention, einer klinischen Prüfung und einer umfangreichen theoretischen Verarbeitung werden konnten.

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[p.49] Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.

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[p.69-70] Allein die Tatsache, daß man vorgab, vom geläuterten und neutralen Gesichtspunkt einer Wissenschaft über den Sex zu reden, ist als solche schon bezeichnend. In der Tat handelte es sich um eine aus nichts als Ausweichmanövern bestehende Wissenschaft, deren Unfähigkeit oder Unwillen, vom Sex selber zu sprechen, sie dahin führte, sich in erster Linie seinen Verirrungen, Perversionen Absonderlichkeiten, pathologischen Schwunderscheinungen und krankhaften Übersteigerungen zuzuwenden. Es handelte sich um eine Wissenschaft, die in ihrem Wesen den Imperativen einer Moral verpflichtet war, deren Teilungen sie unter dem Vorzeichen der medizinischen Norm wiederholte. Unter dem Vorwand der Wahrheit erweckte sie allerorten Ängste und sprach den geringfügigsten Schwankungen der Sexualität einen imaginären Stammbaum der Krankheiten zu, die sich über Geenrationen hinweg ausbreiten sollten. Sie erklärte die heimlichen Gewohnheiten der Schüchternen und die kleinen, einsamen Manien zu Gefahren für die gesamte Gesellschaft und stellte ans Ende der ungewöhnlichen Lüste nichts Geringeres als den Tod: den Tod der Individuen, den der Generationen, den der Spezies.

[p.70] Auf diese Weise hat sie sich mit einer zudringlichen und indiskreten medizinischen Praktik verbunden, die wortgewandt ihren Abscheu hinausposaunte, stets bereit, dem Gesetz oder der Meinung Beistand zu leisten, den Ordnungsmächten williger ergeben als den Forderungen der Wahrheit. Ungewollt naiv in den besseren Fällen, weit häufiger aber willentlich verlogen, eine Komplizin dessen, was sie anprangert, trug sie hochmütig und speichelleckerisch eine ganze Zotensammlung des Morbiden zusammen.

[...] Doch jenseits der wirren Lüste berief sie sich auf andere Mächte und bezog den souveränen Standpunkt der Hygieneimperative, indem sie die alten Ängste vor der Geschlechtskrankheit mit den neuen Themen der Asepsie und die großen evolutionistischen Mythen mit den jungen Institutionen der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zusammenschloß. Sie gab vor, die physiche Kraft und moralische Sauberkeit des gesellschaftlichen Körpers zu erhalten; sie versprach, die Träger der Schande, die Degenerierten und die entarteten Bevölkerungsteile auszumerzen. Im Namen einer dringenden biologischen und historischen Notwendigkeit rechtfertigte sie die drohend bevorstehenden Staatsrassismen. Sie begründete sie in "Wahrheit".

[p.71] Vergleicht man die Diskurse über die menschliche Sexualität mit der Physiologie der tierischen und pflanzlichen Fortpflanzung zur gleichen Epoche, so überrascht die Phasenverschiebung. Ihre Schwäche, nicht einmal was die Wissenschaftlichkeit angeht, sondern einfach das Fehlen jeder elementaren Rationalität, verleiht ihnen eine Sonderstellung in der Geschichte der Erkenntnisse. Sie bilden eine seltsam trübe Zone. [...]

[p.75] Spätestens seit dem Mittelalter haben die abendländischen Gesellschaften das Geständnis unter die Hauptrituale eingereiht, von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht: Regelung des Bußsakraments durch das Laterankonzil von 1215, die darauf folgende Entwicklung der Beichttechniken, in der Strafjustiz Rückgang der Klageverfahren, Verschwinden der Schuldbeweise (Eid, Duell, Gottesurteil) und Entwicklung von Vernehmungs- und Ermittlungsmethoden, Kompetenzerweiterung der königlichen Verwaltung bei der Verfolgung von Vergehen auf Kosten der privaten Vergleichsverfahren, Einsetzung der Inquisitionsgerichte - all das hat dazu beigetragen, dem Geständnis eine zentrale Rolle in der Ordnung der zivilen und religiösen Mächte zuzuweisen. Die Entwicklung des Wortes "Geständnis" (Foucault bezieht sich hier auf die Wortgeschichte von "aveu", das sich vom lateinischen "advocare" herleitet. Anm. D. Ü.) und der von ihm bezeichneten Rechtsfunktion ist an sich schon charakteristisch: Vom Geständnis als Garantie von Stand, Identität und Wert, die jemandem von einem anderen beigemessen werden, ist man zum Geständnis als Anerkennen bestimmter Handlungen und Gedanken als der eigenen übergegangen.

[p.76] Die Wirkungen des Geständnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der Pädagogik, in den Familien- wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und seine Träume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden; mit größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen, was zu sagen am schwersten ist; man gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anders möglich wären, und daraus macht man dann Bücher. Man gesteht - oder man wird zum Geständnis gezwungen. Wenn das Geständnis nicht spontan oder von irgendeinem inneren Imperativ diktiert ist, wird es erpreßt; man spürt es in der Seele auf oder entreißt es dem Körper. Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Geständnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbrüder. Die waffenlosesten Zärtlichkeiten wie die blutigsten Mächte sind auf das Beeknnen angewiesen. Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.

[p.77] Die Verpflichtung zum Geständnis wird uns mittlerweile von derart vielen verschiedenen Punkten nahegelegt, sie ist uns so tief in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie von uns gar nicht mehr als Wirkung einer Macht erscheint, die Zwang auf uns ausübt; im Gegenteil scheint es uns, als ob die Wahrheit im Geheimsten unserer selbst keinen anderen "Anspruch" hegte, als den, an den Tag zu treten; daß es, wenn ihr das nicht gelingt, nur daran liegen kann, daß ein Zwang sie fesselt oder die Gewalt einer Macht auf ihr lastet, woraus folgt, daß sie sich letzten Endes nur um den Preis einer Art Befreiung wird äußern können. Das Geständnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen.

[p.79] Nun bildete seit der christlichen Buße bis heute der Sex die privilegierte Materie des Bekennens. Er ist das, was man verbirgt, heißt es. Und wenn er nun das wäre, was man in ganz besonderer Weise gesteht? Wenn die Pflicht, ihn zu verbergen, nur ein Aspekt der Pflicht wäre, ihn zu gestehen (was dann hieße, ihn gut und sorgfältig zu verstecken, damit sein Geständnis umso wichtiger wird, ein um so strengeres Ritual erfordert und um so entscheidendere Wirkungen verspricht)? Wenn der Sex in unserer Gesellschaft nun schon seit mehreren Jahrhunderten unter der nimmermüden Herrschaft des Geständnisses stünde?

[p.84] ... wie ist man dazu gekommen, die maßlose und traditionsreiche Erpressung des sexuellen Geständnisses in wissenschaftlichen Formen zu konstituieren?

1. Durch eine klinische Kodifizierung des "Sprechen-Machens": das Bekenntnis mit der Prüfung kombinieren, den Selbst-Bericht mit der Ausbreitung eines Komplexes von Zeichen und entschlüsselbaren Symptomen; die Befragung, den exakten Fragebogen und die Hypnose mit dem Rückrufen der Erinnerungen, den freien Assoziationen: alles Mittel, um die Geständnisprozedur in ein Feld wissenschaftlich akzeptabler Beobachtungen einzugliedern.

2. Durch das Postulat einer allgemeinen und diffusen Kausalität: alles sagen müssen, über alles verhören können - das wird seine Rechtfertigung in dem Prinzip finden, daß der Sex mit einer unerschöpflichen und polymorphen Kausalmacht ausgestattet ist. Das diskreteste Ereignis im sexuellen Verhalten - Unfall oder Abweichung, Mangel oder Exzeß - wird für die unterschiedlichsten Konsequenzen im Lauf der Existenz für fähig gehalten; es gibt kaum eine Krankheit oder psychische Störung, für die das 19. Jahrhundert nicht eine zumindest teilweise sexuelle Ätiologie ersonnen hätte. Von den schlechten Angewohnheiten der Kinder bis zu den Schwindsüchten der Erwachsenen, den Schlaganfällen der Alten, den Nervenkrankheiten und den Degenerationen der Rasse hat die Medizin ein ganzes Netz sexueller Kausalität gesponnen. Das mag uns wohl phantastisch erscheinen. Doch das Prinzip des Sexes als "Ursache von allem und jedem" ist das theoretische Gegenstück eines technischen Erfordernisses: in einer wissenschaftlichen Praktik die Prozeduren eine Geständnisses funktionieren lassen, das gleichzeitig total, minutiös und stetig sein muß. Die unbegrenzten Gefahren, die vom Sex her drohen, rechtfertigen die erschöpfende Inquisition, der man ihn unterwirft.

3.Durch das Prinzip einer der Sexualität innewohnenden Latenz: wenn man die Wahrheit des Sexes durch die Technik des Geständnisses hervorzerren muß, so nicht allein deshlab, weil sie schwierig auszusagen oder mit den Verboten des Anstands belegt ist, sondern weil das Funktionieren des Sexes selbst dunkel ist; weil das Entschlüpfen zu seiner Natur gehört und weil seine Energie und seine Mechanismen sich entziehen; weil seine Kausalmacht zum Teil im Geheimen arbeitet. [...] Das Prinzip einer wesenhaften Latenz der Sexualität gestattet es, den Zwang zu einem schwierigen Geständnis an eine wissenschaftliche Praktik anzuschließen. Man muß es hervorzerren, gewaltsam hervorzerren, weil es sich verbirgt.

4. Durch die Methode der Interpretation: wenn man gestehen muß, so nicht bloß weil der, dem man gesteht, die Macht zu vergeben, zu trösten und zu leiten besitzt, sondern weil die zur Produktion der Wahrheit nötige Arbeit, soll sie wissenschaftliche Geltung gewinnen, über diese Beziehung laufen muß. [...] Der Zuhörende ist nicht mehr bloß der Herr der Verzeihung oder der verurteilende oder freisprechende Richter; er wird der Herr der Wahrheit sein. [...]

5. Durch die Medizinisierung der Wirkungen des Geständnisses: die Erlangung des Geständnisses und seine Wirkungen werden in Form therapeutischer Operationen recodiert. [...] Zum ersten Mal definiert man eine dem Sexuellen eigene Krankhaftigkeit; der Sex erscheint als ein Feld hoher pathologischer Anfälligkeit; Spiegelungsfläche für die anderen Krankheiten, zugleich aber auch ein neuer Brennpunkt der Beschreibung von Krankheiten - des Triebes, der Neigungen und der Bilder, der Lust, des Verhaltens.

[p.126] Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes geht von der zweifachen Behauptung aus, daß sich so gut wie alle Kinder sexueller Aktivität hingeben oder hingeben können und daß diese ungehörige (sowhl "natürliche" wie auch "widernatürliche") sexuelle Betätigung physische und moralische, kollektive und individuelle Gefahren birgt; die Kinder werden als "vorsexuelle" Wesen an der Schwelle der Sexualität definiert, die sich diesseits des Sexes und doch schon in ihm auf einer gefährlichen Scheidelinie bewegen; die Eltern, die Familien, die Erzieher, die Ärzte und später die Psychologen müssen diesen kostbaren und gefährlichen, bedrohlichen und bedrohten Sexualkeim in ihre stete Obhut nehmen; diese Pädagogisierung äußert sich vor allem im Krieg gegen die Onanie, der im Abendland fast zwei Jahrhunderte gedauert hat.

[p.131] Die zeitgenössische Familie ist nicht als eine soziale, ökonomische und politische Allianzstruktur zu verstehen, die die Sexualität ausschließt oder zumindest einengt und auf die nützlichen Funktionen einschränkt. Die Familie hat vielmehr die Sexualität zu verankern und ihren festen Boden zu bilden. [...] Die Familie ist der Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz [...].

Diese Verhäkelung von Allianz und Sexualität in der Familie macht einige Tatsachen verständlich: daß die Familie seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gefühlen, Liebe geworden ist; daß die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte in der Familie hat; und daß sie sich aus diesem Grunde "inzestuös" entwickelt. Mag sein, daß in den von den Allianzdispositiven beherrschten Gesellschaften das Inzestverbot eine funktionell unerläßliche Regel ist. Aber in einer Gesellschaft wie der unseren, in der die Familie der aktivste Brennpunkt der Sexualität ist und in der die Anforderungen der Sexualität die Familie erhalten und verlängern, nimmt der Inzest aus ganz anderen Gründen und auf ganz andere Weise einen zentralen Platz ein: hier wird er ständig bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen - unheimliches Geheimnis und unerläßliches Bindeglied. Sofern die Familie als Allianzdispositiv funktioniert, ist der Inzest streng verboten, und gleichzeitig wird er ständig in Anspruch genommen, damit die Familie der Dauerbrennpunkt für die Sexualität bleibt.

[p.139]

Periodisierung

Konzentriert man die Geschichte der Sexualität auf die Mechanismen der Repression, so stößt man auf zwei Bruchstellen. Die erste liegt im 17. Jahrhundert: Geburt der großen Sperrmechanismen, Monopolisierung der erwachsenen und ehelichen Sexualität, Schicklichkeitsgebote, obligatorische Ausschaltung des Körpers, erzwungenes Schweigen und schamhaftes Sprechen. Im 19. Jahrhundert geht es dann weniger um einen Einbruch als um eine Neigung der Kurve: Von diesem Augenblick an beginnen sich die Mechanismen der Repression aufzulockern; von drückenden Sexualverboten geht man zu einer gewissen Toleranz gegen vor- und außereheliche Beziehungen über; die Disqualifizierung von "Perversen" wird gemildert, ihre gesetzliche Verurteilung hört zum Teil auf; die Tabuisierung der Sexualität der Kinder wird zu einem Gutteil aufgehoben. [...]

Die Chronologie der Techniken reicht weit zurück. Ihr Entstehungsort muß in den Bußpraktiken des mittelalterlichen Christentums aufgesucht werden oder vielmehr in einer doppelten Reihe: in dem obligatorischen, erschöpfenden und periodischen Geständnis, das allen Gläubigen durch das Laterankonzil zur Pflicht gemacht wurde, und in [p.140] den Methoden der Asketik, der geistlichen Übung und der Mystik, die seit dem 14. Jahrhundert mit einer besonderen Intensität entwickelt wurden. [...]

Am Ende des 18. Jahrhunderts entstand aber auch [...] eine ganz neue Technologie des Sexes, die zwar von der Thematik der Sünde nicht ganz unabhängig war, sich jedoch im wesentlichen dem kirchlichen Bereich entzog. Vermittels der Pädagogik, der Medizin und der Ökonomie machte sie aus dem Sex nicht nur iene Laiensache, sondern eine Staatssache. Oder besser: eine Angelegenheit, in der sich der gesamte Gesellschaftskörper und fast jedes seiner Individuen der Überwachung unterziehen mußten.

[p.141] die Sexualität der Kinder war bereits in der geistlichen Pädagogik des Christentums zum Problem gemacht worden (bezeichnenderweise stammt die erste Abhandlung über die Sünde der Mollities von dem Pädagogen und Mystiker Gerson im 15. Jahrhundert.; und die im 18. Jahrhundert von Dekker verfaßte Sammlung Onania übernimmt Wort für Wort ihre Beispiele aus der anglikanischen Pastoraltheorie).

[p.174-175] Die Sexualisierung des Kindes vollzog sich in Form einer Kampagne für die Gesundheit der Rasse (die frühreife Sexualität ist vom 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als eine epedemische Gefahr hingestellt worden, die nicht nur die künftige Gesundheit der Erwachsenen sondern auch die Zukunft der Gesellschaft und der gesamten Art bedroht).