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Bruns, Manfred

Interview zum §176 StGB

Von NN, Stuttgart (1996) und Reini H. Riedesel, Freiburg (1992)

NN: Der Paragraph 176 des bundesdeutschen Strafrechts stellt die sexuellen Beziehungen zwischen Menschen über 14 Jahren und Kindern unter 14 Jahren unter Strafe. Könnte sich Manfred Bruns, gerade auch in seiner Eigenschaft als Jurist und ehemaliger Bundesanwalt, eine Abschaffung dieses Paragraphen vorstellen, der ja bis zu 10 Jahre Haftstrafe androht?

Manfred Bruns: Wenn man über diese Fälle diskutieren will, muß man zwei Fallgruppen auseinander halten:

Bei der weit überwiegenden Zahl der Verurteilungen nach §176 StGB handelt es sich um Väter und Stiefväter, die sich an ihren Töchtern und Stieftöchtern vergreifen. Sie werden zusätzlich auch nach §174 StGB verurteilt, der eingreift, wenn es in Familien und Abhängigkeitsverhältnissen zu sexuellen Handlungen mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren kommt.

Bei dem Rest der Verurteilungen nach §176 StGB handelt es sich um sexuelle Handlungen zwischen Menschen über 14 Jahren und Kindern unter 14 Jahren außerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn bei diesen Fällen nur §176 StGB eingreift, weil Gewalt keine Rolle spielt, handelt es sich in der Regel um pädosexuelle Kontakte von Männern mit Jungen.

NN: Wie hoch sind die durchschnittlichen Zahlen der Verurteilungen pro Jahr?

Manfred Bruns: Wegen sexueller Handlungen mit abhängigen Jugendlichen über 14 Jahren werden bei uns pro Jahr etwa 100 Personen verurteilt. Die Zahl der Verurteilungen wegen sexueller Handlungen mit abhängigen Kindern ist dagegen nicht genau bekannt. Das liegt daran, daß bei der Erfassung der Taten in den Statistiken nicht unterschieden wird, ob die sexuellen Handlungen mit Kindern innerhalb oder außerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen stattgefunden haben. Diese Taten werden in den Statistiken als "sexuelle Handlungen mit Kindern" zusammengefaßt. Es sind pro Jahr etwa 1.400 bis 1.500 Verurteilungen.

Nach Schätzungen entfallen davon etwa ein Drittel auf exhibitionistische Handlungen vor Kindern. Bei dem Rest der Verurteilungen handelt es sich in der weit überwiegenden Zahl der Fälle um Väter und Stiefväter, die mit ihren Töchtern und Stieftöchtern sexuelle Handlungen vorgenommen haben. Sexuelle Handlungen von Vätern und Stiefvätern mit Jungen kommen dagegen in der Gerichtspraxis sehr selten vor. Ob das daran liegt, daß sich solche Fälle tatsächlich sehr viel weniger ereignen, oder ob sie nur seltener angezeigt werden, ist nicht bekannt.

Die Zahl der jährlichen Verurteilungen von Männern wegen sexueller Handlungen mit unter 14-jährigen Jungen außerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen ist aus den geschilderten Gründen ebenfalls nicht bekannt. Sie dürfte aber kaum größer als 100 sein. Das besagt natürlich nichts über die tatsächliche Anzahl solcher Fälle. Sie ist unbekannt.

NN: Was ist typisch für Familien, in denen es zu Mißbrauchsfällen kommt?

Manfred Bruns: Bei den Fällen, die zur Aburteilung kommen, hat man nicht selten den Eindruck, daß die Väter ihre Frau und ihre Töchter wie einen "Harem" ansehen und ihre Töchter nacheinander mißbrauchen. Auch wenn die Männer dabei keine körperliche Gewalt gebrauchen, nutzen sie ihre überlegene Stellung in der Familie und die Abhängigkeit ihrer Töchter aus und vergewaltigen diese zwar nicht tatsächlich, wohl aber seelisch. In den allermeisten Fällen bleibt es nicht bei einzelnen sexuellen Handlungen, sondern diese werden über lange Zeit ständig wiederholt und münden schließlich in regelmäßigen Beischlaf ein. Dadurch werden die Töchter in schwere Loyalitätskonflikte zu ihren Müttern gestürzt, die sie nicht bewältigen können. Erschwerend kommt fast immer hinzu, daß die Väter den Töchtern zu drohen pflegen, sie selbst und ihre Geschwister kämen ins Kinderheim und der Vater werde ins Gefängnis kommen, wenn die Tochter irgend jemand etwas von dem Geschehenen erzähle. Auf diese Weise belasten die Väter die Töchter mit dem Schicksal der Familie und bringen die Töchter so in eine ausweglose Lage. Sie wagen es nicht, sich irgend jemand anzuvertrauen. Dauert das Verhältnis längere Zeit an, kommt es regelmäßig zu heftigen Eifersuchtsreaktionen der Väter, wenn die Töchter beginnen, sich für gleichaltrige Jungen zu interessieren. Die Mädchen werden dann häufig von den Vätern aus angeblich erzieherischen Gründen regelrecht eingesperrt. Das alles führt bei den Töchtern zu schweren psychischen Schäden.

NN: Sind Sie deshalb für eine Beibehaltung des §174 StGB, "Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen"?

Manfred Bruns: Ja! Nur die Schutzaltersgrenzen erscheinen mir zu hoch. Angesichts der derzeitigen Verhältnisse in unseren Familien kann man aber auf diese Vorschrift nicht verzichten. Allerdings warnen Beratungseinrichtungen für sexuell mißbrauchte Kinder sowohl die Eltern als auch die Mitarbeiter sozialer Institutionen davor, aus eigener Bestürzung und Panik zu schnell juristische Schritte gegen die Täter zu unternehmen, ohne darauf zu achten, wie es dem Kind geht, das sich ihnen nach - manchmal jahrelangem - Schweigen anvertraut hat. Da es sich bei diesen Straftaten um Delikte handelt, die von Amts wegen verfolgt werden, haben das Kind und seine Vertrauensperson nach erfolgter Anzeige keine Möglichkeit mehr, etwa durch Rücknahme, das Strafverfahren zu verhindern. Den Justizorganen geht es vornehmlich um die Bestrafung des Täters, sie vernachlässigen zumeist den Schutz und das seelische Wohl des Kindes. Das Argument, man müsse einen Täter bestrafen, damit andere Kinder geschützt werden, hat aber zurückzutreten, wenn die Gefahr besteht, daß ein geschädigtes Kind durch ein lediglich rachegeleitetes Handeln der Erwachsenen ein weiteres Mal verletzt wird.

NN: Und wie beurteilen Sie die Bestrafung "freiwilliger" pädosexueller Kontakte außerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen nach §176 StGB?

Manfred Bruns: Darauf möchte ich mit einem Zitat das verstorbenen Sexualwissenschaftlers Schorsch antworten (Monatsschrift für Kriminalität, 1989, 141-146): "Kinderliebe also ist weder generell schlecht noch generell gut. Es läßt sich nur so viel sagen: Sie ist riskiert durch die Ungleichzeitigkeit, sie ist belastet durch die Disparität der Wünsche, das heißt jedoch nicht, daß sie unbedingt schädlich ist. So wie es kein Problem ist, in einer einzelnen geschichtlichen Entwicklung aufzuzeigen, daß eine pädosexuelle Beziehung für ein Kind die Katastrophe sein kann, ist es auch für einen Unvoreingenommenen leicht darzustellen, wie eine pädophile Beziehung z. B. für ein emotional heimatloses, unverwurzeltes, sog. verwahrlostes, frühkriminelles Kind die Rettung sein kann, wenn es in dieser Beziehung erstmals eine stabile, wenn auch sexualisierte emotionale Verläßlichkeit erlebt. Beim Thema Pädosexualität sind also weder blinde Apologie, noch moralische Abwertungen und Bedenklichkeitserklärungen, noch Racheimpulse, noch generalisierte Stellungnahmen im Sinne von pro, contra oder teils-teils angebracht. Das Strafrecht, das solche Stellungnahmen erwartet, muß von den Wissenschaften hier im Stich gelassen werden; denn die Pädosexualität ist ein Phänomen, das mit dem groben Hammer des Strafrechts nicht sinnvoll zu bearbeiten ist; er, der Hammer, hinterläßt nur Splitter und Trümmer nach allen Seiten."

Ergänzend möchte ich außerdem den verstorbenen Sexualwissenschaftler Borneman zitieren (Psychologie heute, Januar 1990, 59): "Meine Erfahrung mit vielen Hunderten von gerichtlich vernommenen Kindern und Jugendlichen bestätigen, daß die Verhandlungen stets größeren Schaden anrichten als der eigentliche Geschlechtsverkehr. Das liegt daran, daß die Gerichte den Kindern, die ihre Sexualität bis dahin als etwas völlig Normales betrachtet hatten, beizubringen versuchen, daß sie etwas Verbotenes, Unsittliches, Ekelhaftes getan hätten."

NN: Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?

Manfred Bruns: Da die Strafverfahren in diesen Fällen regelmäßig mehr schaden als nutzen, sollte man über andere Möglichkeiten nachdenken, wie man diesem Problem beikommen kann. Das gilt allerdings nur für die wirklich "freiwilligen" pädosexuellen Kontakte. Diese Fälle sollten nach meinem Eindruck mit anderen Mitteln gelöst werden, nicht mit den Mitteln des Staatsanwalts. Der ist da fehl am Platz.

Aber eine solche differenzierte Diskussion und differenzierte Sicht ist bei uns derzeit politisch schlechterdings nicht durchzusetzen, und ich habe den Eindruck, daß sich da auch in den nächsten Jahren, ich möchte fast sagen, Jahrzehnten, nichts tun wird."

Um diese Einschätzung zu untermauern, braucht man sich nur folgendes vorzustellen: Es gibt gelegentlich Pädophile, die einen sehr lebendigen Kontakt zu Kindern haben, wo sich Kinder die Klinke in die Hand geben. Wenn das die Nachbarn miterleben, zur Polizei gehen und sagen, das muß unterbunden werden, wenn dann die Polizei mitteilen würde, wir können das nicht mehr unterbinden, weil die Strafvorschrift aufgehoben worden ist, dann wäre das ein Politikum, das alle Beteiligten scheuen. Keine Partei will das auf sich nehmen. Ich kann aber nur immer wieder sagen: nach meiner Erfahrung wird in diesen Fällen der eigentliche Schaden im Strafverfahren angerichtet. Man müßte sich eine Lösung überlegen, außerhalb des Strafverfahrens, mit anderen Mitteln, um dieses Problem zu bewältigen.

NN: Ich danke Ihnen für das Gespräch.