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Böhm H.

Kinderzeichnungen in der Diagnostik

in Rutschky, Wolff (ed.), Handbuch sexueller Mißbrauch, Klein, Hamburg, S.215-232 (1994)

Auszüge

[] Als Grundlagenliteratur betrachte ich Mühle, Widlöcher und Richter.

Zur Entfaltung der Kinderzeichnung

Wie im einzelnen zu zeigen ist, geht es nun bei den Versuchen der diagnostischen Interpretation kindlicher Zeichnungen im Kontext der aktuellen Literatur über sexuellen Mißbrauch weniger um die unmittelbar betrachtbaren Darstellungen, es wird vielmehr eine "tieferliegende Enthüllung" erwartet, nämlich durch den offensichtlichen Sinn einer Botschaft hindurch einen zweiten Sinn entdecken zu wollen, für den es nur den Schlüssel zu finden gelte, um etwa ein Mißbrauchserlebnis aufzudecken.

Kinderzeichnung - ein Tatsachenbeweis?

Spätestens Baumgardt führt die Kinderzeichnung als "Tatsachenbeweis" in die Debatte ein und zwar im Sinne der indirekten Offenbarung tatsächlicher Ereignisse auf dem Wege der Zeichnung und zwar unter der gedachten Voraussetzung, daß die Möglichkeit der lautsprachlichen Offenbarung verstellt ist.

Elisabeth stellt die "Zerrissenheit" der Familie dar

Ob aus der Art der Darstellung eines Kindes dieses Alters ersichtlich werden kann, wie es das einzelne Familienmitglied oder eben die ganze Familie und deren Beziehungen untereinander erlebt und erfaßt, ist fragwürdig, denn es müßte belegt werden - was hier logisch zwingend vorausgesetzt ist -, daß bereits bei Beginn des Zeichenakts eine räumlich-kompositionelle Ordnung intendiert wurde.

Baumgardt: "[] Sie stellt die Zerrissenheit der Familie u.a. dadurch dar, daß sie jedem Familienmitglied ein eigenes Blatt zuordnet."

Elisabeth kann viele Gründe gehabt haben, die Familie so und nicht anders zu zeichnen. [] Genauso umstandslos [] könnte man natürlich auch die Aussage formulieren: Jeder in der Familie hat seinen Platz.

"Schwarz ist keine kindertümliche Farbe"

[] Baumgardt: "Rot ist immer Ausdruck starker Emotionalität" [] "Violett als Mischfarbe von Rot und Blau - dies sind von ihrem Symbolgehalt her zwei gegensätzliche Farben - weist auf eine versönliche Extreme vereinigende Haltung hin."

An anderer Stelle heißt es: "Schwarz ist keine kindertümliche Farbe; wenn sie vom Kind trotzdem verwendet wird, drückt es damit seine innere Not von Angst und Traurigkeit aus."

Neben dem hier durch nichts belegten "Symbolgehalt" von Farben erstaunt die Gewißheit, mit der eine solche Feinheiten intendierende Farbwahl von Kindern unterstellt wird. Eine derartige "Symbolwahl" konnte in den wissenschaftlichen Untersuchungen zu Kinderzeichnungen nie bestätigt werden.

Zahlensymbolik

Symbolisch sollen nicht nur die Farben, sondern auch die Zahlen sein. Die Vaterfigur habe neun "Haare". Die Neun (3 x 3) drückt in der Symbolik der Zahlen allgemein die dynamische Kraft aus. Wieso [] bleibt von der Autorin unerläutert. Hat hier ein mathematisch Unbewußtes den Stift geführt?

Und auch "Nicht-Gezeichnetes" ist für Baumgardt ohne weitere Begründung bedeutsam: Ein fehlender "rechter Arm" drückte Angstbesetztheit durch das Kind aus, ein fehlender "Bauchnabel" bedeutete, daß die Zone des väterlichen Bauchnabels als emotional gefährlich erlebt werde!

[] In der immer wieder abgesetzten Strichführung bei der roten Linie drückte Elisabeth ihre Hemmung und ebenso ihre Angst vor dem Dargestellten aus. Daß Kinder dieses Alters meist einfach noch motorische Schwierigkeiten haben, eine Linie "unabgesetzt" zu zeichnen, kommt gar nicht erst ins Gesichtsfeld.

Die besondere Problematik dieser Falldarstellung liegt darin, daß die absurde und durchgängig unbegründete Konstrukthaftigkeit der Interpretationen Baumgardts der jüngeren Literatur über sexuellen Mißbrauch vielfach als Vorbild gedient hat und dort kritiklos übernommen wurde.

Kinderzeichnungen und ihre Begutachtung durch eine Gerichtsgutachterin

So bezieht sich etwa Raack (in: Enders) in ihrem Literaturverzeichnis und auch inhaltlich auf Baumgardt. Sie stellt den Fall der vierjährigen Heike und zwei von ihren Zeichnungen vor, in denen die Mißbrauchsproblematik deutlich zu erkennen sei.

Folgt man Mühle, so handelt es sich bei Bild 1 um eine Zeichnung auf Kritzelniveau mit Tendenz zur Formenreduktion.

Die Gutachterin sieht in dieser Zeichnung gewissermaßen eine "Profilaufnahme", die im Sinne einer "Ausschnittsvergrößerung" kopulationsbeteiligte Körperteile darstellen. Sie unterstellt dem Kind hier umstandslos eine zeichnerische Kompetenz, die eher auf dem Niveau einer reifen Karikatur liegen dürfte.

Stutzig werden kann man bei Bild 2, das angeblich in der Untersuchungssituation von Heike gemalt worden ist. Zu Bild 1 besteht ein zeitlicher Abstand von maximal drei Monaten. In den dicken, groben Strichen von Bild 2 ist das Verharren auf dem Kritzelniveau zu erkennen; [] Auffällig abgesetzt dagegen sind die feinstrichigen Elemente in der Zeichnung, nämlich Sonne, Stern und Teile der Figur.

Zwischen beiden Zeichenniveaus liegen "Welten". [] Gradlinigkeit und Winkligkeit der angesetzten Beine verweisen auf eine Zeichenkompetenz weit jenseits des Niveaus von Bild 1. []

Als authentisch im Sinne gleicher Autorenschaft von Bild 1 und Bild 2 können nur die grobzügigen Kritzelbestandteile angesehen werden. [] Es wurde bei Bild 2 eine verfälschende Ergänzung vorgenommen, die die bei Raack diskutierte Sinngebung erst konstituiert.