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Baurmann, Michael C.

Sexualität, Gewalt und die Folgen für das Opfer

Zusammengefaßte Ergebnisse aus einer Längsschnittuntersuchung bei Opfern von angezeigten Sexualkontakten

Bundeskriminalamt Wiesbaden (1983)

2. Auflage

Vorwort

[...]

Für das vorliegende Heft wurden die wesentlichsten Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zusammengefasst, das als Bd. 15 der BKA-Forschungsreihe erscheint. Diese Zusammenfassung wurde vor allem für die Beamten in der Polizeipraxis geschrieben. Für die gesamte Untersuchung wurden über veir Jahre hinweg über 8000 Opfer von angezeigten Sexualkontaktn im Bundesland Niedersachsen befragt. Ein besonderer Dank gilt deshalb dem Landeskriminalamt Niedersachsen, das dieses Projekt initiierte. Die Befragungen fanden zur Zeit der Anzeigenaufgabe statt. Im Gegensatz zu vielen anderen Untersuchungen zu den Sexualdelikten wurden hier alle Fälle erforscht, die der Polizei bekannt geworden waren. Sechs bis zehn Jahre nach der ersten Befragung wurde mit 112 zufällig ausgesuchten Opfern noch einmal ein ausführliches Gespräch geführt. Die Opfer beschrieben dabei, wie sie das Ereignis im Nachhinein einschätzten.

Nach den Ergebnissen dieser Studie ist es in Zukunft dringend notwendig, deutlicher zwischen den verschiedenen sexuellen Deliktformen zu unterscheiden. Einerseits werden viele sehr harmlose Begehungsformen (Verletzungen von Sexualnormen) bei der Polizei angezeigt und andererseits werden die gefährlichen sexuellen Gewaltdelikte von der Umwelt des Opfers häufig bagatellisiert, so in Fällen von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Die betroffenen Gewaltopfer haben dann unter solchen Fehleinschätzungen zu leiden. Kriminologisch haben die verschiedenen gewaltlosen und gewalttätigen Begehungsformen wenig miteinander zu tun. Insofern ist es auch irreführend, in verallgemeinernder Form von den Sexualdelikten zu sprechen.

[...]

Fragestellungen und Aufbau der Untersuchung

Wenn über auffälliges Sexualverhalten gesprochen wird, welches von der gesellschaftlichen Norm abweicht, dann kommen leicht unbewußte Ängste und scheinrationale Argumente in die Debatte. Seit Jahrzehnten beklagen Strafrechtler immer wieder die Irrationalität solcher Diskussionen. Vom Sexualverbrecher, seiner Tat und dem Opfer gibt es kein der komplexen Realität entsprechendes Bild. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß die Sexualität in weiten Bereichen immer noch ein Tabu ist, daß eine Unbeholfenheit besteht, sich über Sexualität zu unterhalten und daß Problemstellungen im Sexualbereich somit einer sachlichen Darstellung entzogen bleiben. Das Bild des sexuellen Abweichlers wird in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung meist so verzerrt dargestellt, daß der normale Bürger sich sicher fühlen kann, mit diesen "abartigen Wesen" nichts gemeinsam zu haben. [...] Auch wird in verallgemeinernder Weise über die Sexualtäter geredet, so als seien sie alle gleich.

Solche diffusen Meinungen und Einstellungen, Vorurteile, sowie ein Informationsmangel bezüglich der abweichenden Sexualität wirken als Ganzes oder ausschnittsweise in den Alltag hinein,

Wie der Ernstfall tatsächlich aussieht, wo die echten Gefahren für das Sexualopfer lauern, sollte in einer großangelegten Längsschnittuntersuchung erforscht werden. [...] Diese Längsschnittuntersuchung sollte viktimologisch, also opferorientiert angelegt werden, um mehr Information über Verbesserungsmöglichkeiten für die Situation des Sexualopfers erhalten zu können. [...]

Die hauptsächlichsten Fragstellungen der Untersuchung waren:

  1. Was ist eigentlich vorgefallen, wenn ein Sexualdelikt bei der Polizei angezeigt wird?
  2. Gibt es das Sexualdelikt? Oder gibt es verschiedene Konstellationen? Welche Rolle spielt Gewaltanwendung bei angezeigten Sexualdelikten?
  3. Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders gefährdet, Sexualopfer zu werden?
  4. Wie kam es zur sexuellen Handlung? Wie hat sich der Beschuldigte verhalten? Wie hat sich das Opfer verhalten? Wo fand der Sexualkontakt statt?
  5. Wie war die Situation des Opfers vor, während und nach der Tat?
  6. Wie hat die Umwelt beim Bekanntwerden der Tat reagiert? Wie haben sich die Vertreten von Behörden verhalten?
  7. Wie sieht das Opfer den angezeigten Sexualkontakt mehrere Jahre nach der Anzeige?
  8. Wie viele Opfer fühlen sich geschädigt? In welchen Fällen treten Schäden auf? Wodurch werden Schäden, sofern sie auftreten, nach Meinung der Opfer angerichtet? Sind es eher sogenannte primäre Schäden, die durch die kriminelle Handlung selbst ausgelöst werden oder eher sogenannt sekundäre, die erst später durch negative Einflüsse der Umwelt beim Opfer entstehen?

[...]

In einem ersten Schritt wurden über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg (1969-1972) nahezu alle strafbaren Sexualkontakte, (8058 Fälle) die im Bundesland Niedersachsen zur Anzeige kamen mit einem besonderen opferorientierten Fragebogen erfaßt (Untersuchung 1). Nur ein Teil dieser Fälle wurde später vor Gericht verhandelt. In vielen Fällen - beispielsweise mit unbekannten Tatverdächtigen - wurden die weiteren polizeilichen Ermittlungen eingestellt. Insofern können die hier als Opfer erfaßten Personen auch nur als "deklarierte Opfer" bezeichnet werden, weil sie sich entweder selbst als Opfer empfanden (Opferperzeption) und sich als solcher deklarierten [...] oder weil sie von anderen Personen als Opfer deklariert wurden. Fremddeklarierte Opfer empfinden sich selbst nicht unbedingt als Opfer, Diese Fälle können beispielsweise eintreten, wenn ein nichtsahnendes Kind seinen Eltern eher beiläufig einen oberflächlichen, aber strafbaren sexuellen Kontakt erzählt (beispielsweise von einer Begegnung mit einem Gliedvorzeiger) und die entsetzten Eltern dann mit dem Kind zur Polizei gehen.

In einem zweiten Schritt wurden bei einer Nachuntersuchung 112 aus der Gesamtheit zufällig ausgewählte Sexualopfer gebeten, an einer Nachbefragung teilzunehmen. Diese Untersuchung 2 fand im Einzelfall sechs bis zehn Jahre nach der Anzeige (Opfer-Deklaration) statt, und zwar in den Jahren 1979 und 1980. Sie bestand aus einem weitgehend standarisierten Tiefeninterview, in das bewährte psychodiagnostische Testverfahren und viktimologische Fragestellungen integriert waren. Diese Gespräche wurden im Haus des deklarierten Sexualopfers geführt. Die Interviewer waren weibliche und männliche Psychologen.

Schließlich wurden in einem dritten Schritt di Gerichtsakten von 131 Sexualdelikten aus der Pfalz analysiert (Untersuchung 3). Diese Fälle waren also nicht nur zur Anzeige bei der Polizei, sondern auch zu einer Verurteilung vor Gericht gekommen. Bei dieser opferorientierten Aktenanalyse wurden nur Fälle herangezogen, bei denen ein ausführliches psychologisches Glaubwürdigkeitsgutachten vorlag. Diese Fälle waren zu einem vergleichbaren Zeitpunkt geschehen wie die Fälle der Gesamtheit in Untersuchung 1. Der Zweck dieses dritten Schritts der Untersuchung war der Vergleich zwischen lediglich angezeigten Sexualkontakten und den verurteilten. Fast alle bisher bekannten Untersuchungen hatten sich leider ausschließlich mit verurteilten Sexualstraftaten beschäftigt.

Da die Verurteilung der untersuchten Deliktarten in Niedersachsen nicht signifikant abweicht von der in der gesamten Bundesrepublik, können die folgenden Ergebnisse auch auf das gesamte Bundesgebiet übertragen werden.

Ergebnisse

Die Sexualopfer waren zu 80-90% Mädchen und Frauen. Etwa zwei Drittel der deklarierten Opfer war im Alter von sieben bis dreizehn Jahren. Allerdings waren die hauptsächlich betroffenen Altersgruppen je nach Deliktart sehr untersciedlich. Beim sexuellen Mißbrauch von Kindern waren die meisten deklarierten Opfer zwischen sieben und dreizehn Jahre alt. Im Bereich der Vergewaltigung waren vorwiegend die jungen Frauen im Alter zwischen vierzehn und zwanzig Jahren gefährdet. Das Alter der deklarierten Opfer, die mit einem Exhibitionisten ("Gliedvorzeiger") konfrontiert worden waren, reichte über ein größeres Altersspektrum. Betroffen waren aber auch hier vorwiegend die jüngeren Frauen. Die beiden obersten Kurven in Abbildung 1 zeigen die Anzahl der deklarierten Opfer für jede Altersstufe, unterteilt nach ihrem Geschlecht. Die unterste Kurve zeigt die Verteilung der Opfer, die bedrohliche oder gewalttätige Angriffe erlebt hatten.
1000

 900				    ..   ...
			          ..  ...***.
 800			        ..     **   .
			      ..   ****	    .
 700			    ..   **	    .
			  .. # **           .       #: männliche Opfer
 600			 .  ***		    .
			. **		    .
 500		       .** 		    .
		      .*		    .
 400		     .* 		    .
		    .*     weibliche Opfer  .
 300		   .*           	    . **********
	         ..*            	     * ++++++++	**
 200	       ..**             	      +	       ++ **
	     ..**                       ++++++         	 ++ **
 100	  ...** 	      ++++++++++                   ++ **
         ****   ++++++++++++++      Drohung, Gewalt	     +++
   0 -***---++++------------------------------------------------

      1  2  3  4  5  6  7  8  9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

[Dieses Schema gibt natürlich nur sehr ungenau die Zeichung wieder]

Männliche Opfer erlebten selten und jüngere Opfer nur manchmal aggressive Sexualdelikte. Drohendes und gewalttätiges Verhalten richtete sich vorwiegend gegen junge Frauen zwischen 13/15 und 20 Jahren.

[Resultate über Geschlecht und Alter der Täter]

Von den alljährlich in der polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Fälle sind etwa 24% exhibitionistische Kontakte (P. 183 StGB), etwa 35% sexueller Mißbrauch von Kindern (P. 176 StGB) und etwa 22% sexuelle Gewaltdelikte (P. 177, 178 StGB). In die vorliegende Untersuchung wurden auch die Fälle mit Beischlag zwischen Verwandten (P. 174 StGB) einbezogen, obwohl sie nicht zu den Straftaten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung verstoßen gehören.

Unter den "sonstigen" befanden sich hier auch noch die Fälle von sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen (P. 174 StGB) und die extrem kleine Gruppe der angezeigten Verführungen (P. 182 StGB). Unter diesem Paragraphen werden im Bundesgebiet jährlich nur etwa zehn bis fünfzehn Täter verurteilt. Gleichgeschlechtliche Kontakte spielen statistisch und kriminologisch keine wesentliche Rolle bei der Untersuchung. Zum einen machten sie nur 10 - 15% der Fälle aus und weil die beschriebenen sexuellen Handlungen in ihrer Art "harmloser" und fast ausschließlich ohne Gewaltanwendung durch den Tatverdächtigen geschahen, fühlte sich zum anderen auch keines der nachbefragten männlichen Opfer geschädigt. In diesen Fällen konnte auch kein Schaden mit Hilfe der Testverfahren gemessen werden.

[Ergebnisse zu Vorstrafen]

Der Bekanntschaftsgrad, so wie er zwischen Opfer und Täter schon vor der eigentlichen Tat besteht, ist von großer Bedeutung für die Entstehung und Ausprägung der strafbaren sexuellen Handlung. Die folgende Aufstellung zeigt die Prozentwerte für die verschiedenen Bekanntschaftsgrade bei angezeigten und bei verurteilten Sexualtaten.

 Tab. 3

Bekanntschaftsgrad      bei 131 verurteilten        bei 8058 angezeigten
                               Fällen                       Fällen.

Bettgemeinschaft      0.8%  \
Eltern               10,0%  |
dasselbe Zimmer       0,0%  |
Stief-/Adoptivvater   6,9%  |
Stief-/Geschwister    0,8%   \ 	36,8%                       11,3%
dieselbe Wohnung      6,9%   /
Großeltern/"Opa"      1,5%  |
Freundschaft          3,8%  |
Schwager/Schwägerin   1,3%  |
Onkel/Tante           4,6%  /


Erzieher/Lehrer       6,2% \
Bekannter der Fam.    4,6% |
Arbeitgeber           3,9% |
"Onkel"/"Tante"       3,1% |
Freund e. Fam-angeh.  0,8%  \  34,1%                       22,6%
dasselbe Haus         8,5%  /
derselbe Verein       0,8% |
Hausmeister u.ä.      0,0% |
Geschäftsmann         6,2% /

Nachbarschaft	     13,1% \
Sprechbekanntschaft   1,5% |
gewohnte Sehbekannt.  6,2%  \  29,3%           	       	   66,3%
selten gesehen	      2,3%  /
		           |
fremd                 6,2% /
 
Bei den angezeigten Fällen kannte sich ein Drittel der deklarierten Opfer und der Tatverdächtigen schon vor der Tat. Bei den verurteilten Fällen waren sich nur 6,2% der Tatbeteiligten völlig fremd gewesen, während sich etwa 70% schon vorher gekannt hatten. Der bekannte und verwandte Täter ist aber nicht nur relativ häufig, sondern er ist zudem gefährlicher für das Opfer. Die nebenstehender Aufstellung zeigt, daß verwandten und bekannten Tatverdächtigen häufiger versuchter und vollendeter Geschlechtsverkehr vorgeworfen worden war (20,2% + 33,4% = 53,6%), während bei der großen Zahl der 2.916 exhibitionistischen Kontakte vorwiegend fremde Tatverdächtige (93,0%) in Erscheinung traten.
Tab. 4

                                fremd    bekannt  verwandt


versuchter GV,                   46,4%     33,4%    20,2%        1699 = 100%
Geschlechtsverkehr

genitale Berührung, gegens.      46,3%     36,0%    17,7%      	 2497 = 100%
Manipul., gv-ähnlich. Handl.

Zeigen des Geschlechtsteils      93,0%      5,9%     1,1%        2916 = 100%

 
Je näher sich Opfer und Täter schon vor der Tat kennen, deto wahrscheinlicher ist es also, daß der Täter intensivere sexuelle Handlungen versucht oder ausführt.

Ähnliches gilt auch für die Anwendung von Drohungen und Gewalt bei Sexualdelikten. Die nebenstehende Aufstellung zeigt, daß 90,8% der gewalttätigen und 75,7% der drohenden Täter schon vorher mit dem Opfer bekannt oder verwandt waren. Bei der großen Anzahl der Fälle mit gewaltlosem ("sonstigen") Verhalten wurden vorwiegend fremde Tatverdächtige auffällig (68,7%).

Tab. 5

                                fremd    bekannt  verwandt


Tatverd. verhielt sich            9,2%     31,0%    59,8%        1079 = 100%
gewalttätig

Tatverd. verhielt sich           24,3%     22,2%    53,5%      	  510 = 100%
drohend

sonstiges Verhalten des          68,7%     20,9%    10,5%        5975 = 100%
Tatverd.
 

Zusammengefaßt bedeutet dies also, daß der Täter dem Sexualopfer häufig vorher schon bekannt ist, und daß gerade die bekannten und verwandten Sexualtäter besonders gefährlich sind für das Opfer. Die Warnung vor dem "fremden Onkel" ist wenig sinnvoll; angebracht wäre eher die Warnung vor dem echten Onkel, dem Vater, dem Freund, dem Partner in der Wohnung, dem Bekannten usw.

[...]

Nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchungen hatte etwa ein Drittel der Täter bedrängendes, bedrohendes oder gewalttätiges Verhalten gezeigt. Auffällig ist an diesem Ergebnis, daß etwa 20% der Täter von den Opfern als gewalttätig und weitere 12% als bedrängend oder bedrohlich beschrieben wurden, daß aber nur etwa 15% solcher Taten als Vergewaltigung bzw. sexuellen Nötigung registriert worden waren. Es ist zu vermuten, daß sich hier vor allem unter dem hier mit 77% registrierten Strafbeständen nach P. 176 StGB (sexueller Mißbrauch von Kindern) etwa 15% gewalttätige oder nötigende Sexualdelikte befanden. Wenn man also aus der polizeilichen Kriminalstatistik die angezeigten sexuellen Gewaltdelikte ablesen will, muß man also die gemeldeten Fallzahlen zu Vergewaltigung und sexuelle Nötigung verdoppeln, um die realitätsgerechte Einschätzung der gemeldeten sexuellen Gewaltkriminalität zu erhalten.

Tab. 7

Verhalten des Tatverdächtigen

Er war freundlich zu mir                 12,5%      \
		      			             >   13,4%
Wir waren befreundet			  0,9%      /

Ich stand da; ich konnte ihn   	       	 47,3%
sehen. Sonstiges Verhalten

Er hatte mir etwas versprochen		  5,4%
oder geschenkt

Er hatte Alkohol getrunken		  1,8%

Er bedrängte mich			  2,7% 	    \
					      	    |
Er hatte mir gedroht			  9,8%	     >   32,1%
					      	    |
Er hatte mich mit körperlicher		 19,6%	    /
Gewalt gezwungen
Entsprechend dem Anteil der drohenden oder gewalttätigen Täter hatten sich etwa 35% der Opfer ablehnend oder abwehrend verhalten. Es fällt auf, daß sich viele der deklarierten Opfer (etwa 50%) lediglich passiv verhalten hatten. Das liegt einmal daran, daß bei der zahlenmäßig großen Gruppe der exhibitionistischen Kontakte eine andere Opferreaktion kaum möglich war und zum anderen, daß einzelne der jungen, weiblichen Opfer es gar nicht gewagt hätten, sich ggen einen Mann zu wehren.

In vielen angezeigten Fällen war aber auch gar keine Abwehr des deklarierten Opfers notwendig, weil sich der Tatverdächtige überhaupt nicht drohend oder gewalttätig verhalten hatte. Diese Konstellation traf für 72,5% der angezeigten Sexualkontakte zu.

Abb. 6

Verhalten des Opfers bei Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung


aktives/initiierendes Verhalten            - ca. 15%

passives Verhalten                         - ca. 50%

ablehnendes/abwehrendes Verhalten          - ca. 35%

Die strafrechtliche Registrierung der Sexualdelikte sagt noch wenig aus über die Art der tatsächlich ausgeführten sexuellen Handlungen. Bei den angezeigten Sexualdelikten waren etwa 40% der Kontakte sehr oberflächlich und kurzzeitig, etwa weitere 35% bestanden aus Berührungen des Geschlechtsteils mit der Hand, gegenseitige Manipulationen und beischlafähnliche Handlungen, während nur etwa 25% intensive sexuelle Handlungen waren. Etwa drei Viertel der angezeigten und 40% der verurteilten Sexualkontakte bestanden aus lediglich einmaligen Handlungen. Bei der weiteren Strafverfolgung verändern sich allerdings die jeweiligen Anteile der strafbaren Handlungen ganz erheblich: 30% exhibitionistische, 59% "Petting"- und 38% genitale Kontakte. Das bedeutet, daß sehr viele der oberflächlichen Sexualkontakte gar nicht vor Gericht verhandelt und verurteilt werden.

[...]

Am häufigsten wurde mit der Mutter (45,9%) und der Freundin (23,0%) über das Opfererlebnis gesprochen. Nur in 6,8% der Fälle fand das erste Gespräch mit einem Polizeibeamten statt. Die Entscheidung über die Anzeigenerstattung wurde häufig von der Mutter (26,4%) und dem Vater (23,6%) getroffen. Das Opfer entschied sich in 8,3% der Fälle selbständig für die Anzeigeerstattung. Die meisten Anzeigen (54,6%) wurden dann aber von den Angehörigen des Opfers erstattet, in 12% der Fälle gab das Opfer und in etwa 10% jemand aus der Nachbarschaft die Anzeige auf. Polizeibeamte waren in 7,5% der Fälle Anzeigenerstatter. [...]

Bei den Vergewaltigungsopfern drückt sich damit meist Empörung, Angst, Wut und Leid des Opfers aus. (32,4% der sexuellen Gewalttaten wurden vom Opfer selbst angezeigt.) Demgegenüber ist es beim Exhibitionisten mehr die Empörung der Angehörigen des Opfers über das abweichende Sexualverhalten dieses fremden Mannes. Weil der Beschuldigte ein Fremder ist, bestehen auch weniger Skrupel, ihn anzuzeigen.

Ganz anders ist die Lage im Bereich des P. 176 StGB (sexueller Mißbrauch von Kindern). Teilweise werden die Sexualkontakte von den Kindern als nicht so wesentlich betrachtet, manchmal sogar bewußt verschwiegen, so daß das Delikt oftmals eher zufällig bekannt wird. Aber selbst bei schwerwiegenden Delikten in diesem Bereich schrecken die Eltern oftmals vor einer Anzeige zurück, weil der Tatverdächtige oftmals ein Bekannter ist. In beiden Fällen kann es - aus unterschiedlichen Gründen - leicht zu sekundären Schädigungen beim Opfer kommen, das heißt, daß das Kind zusätzlich oder erst durch das Verhalten der Umwelt geschädigt wird.

Bei der Nachuntersuchung stellten Psychologinnen bzw. Psychologen durch Gespräche und Tests fest, wieviele der deklarierten Sexualopfer zu irgendeiner Zeit im Zusammenahng mit dem strafbaren Sexualkontakt geschädigt waren oder noch sind. Bei etwa der Hälfte der deklarierten Sexualopfer (48,2%) konnten überhaupt keine Schäden festgestellt werden, etwa 18% zeigten ein geringes Ausmaß und 34% ein größeres oder sehr großes Ausmaß an Schäden. Sofern die Opfer geschädigt waren, litten sie unter den Schäden durchschnittlich vier Jahre und acht Monate. Die Hälfte der 51,8% geschädigten Opfer nannte als hauptsächliche Schäden soziale Störungen (insbesondere starke Ängste und Mißtrauen, aber auch Schreckhaftigkeit und Familienprobleme), etwa ein Drittel nannte Sexualstörungen (wie Orgasmusschwierigkeiten, Abscheu und Angst vor Sexualität, Angst vor Schwangerschaft) und ein Fünftel der Opfer nannte depressive Verstimmungen bzw. Störungen (wie starkes Grübeln, Schuldgefühle, depressive Verstimmung und Schlafstörungen). Im Vordergrund standen für die Opfer ganz eindeutig die psychischen Folgen.

Sofern die Opfer geschädigt waren, wurden sie befragt, was sie als Hauptgrund für ihre Schäden ansahen. In der Hälfte dieser Fälle sah das Opfer die strafbare sexuelle Handlung selbst als hauptsächliche Kausalität für den Schaden an, in einem Drittel der Fälle war es ganz allgemein das Verhalten des Tatverdächtigen und bei je einem Zehntel der Schäden war entweder das nachträgliche Verhalten von Bekannten und Verwandten oder das Verhalten der Polizei die Hauptursache für die beobachtete Schädigung.

Aus polizeilicher Sicht bedeutet dies, daß die Polizei bei angezeigten Sexualkontakten zwar seltener hauptsächlich verantwortlich ist für die Opferschäden als bisher von mancher Seite her angenommen wurde, aber selbst die wenigen Fälle von sekundären Schädigungen durch die Polizei sollten nachdenklich stimmen und zur Verbesserung von Aus- und Fortbildung führen.

[...]

Die Gespräche mit Polizeibeamten, Vertretern de Jugendamts, Richtern und Schöffen, sowie mit dem Rechtsanwalt des Beschuldigten wurden von den Opfern als leicht bis sehr unangenehm empfunden. Von zehn Gesprächen, die mit den Vertretern der jeweiligen Personengruppe geführt wurden, stuften die Opfer bei den Sachverständigen 2,5 dieser Gespräche als "schädigend" ein, bei den Polizeibeamten waren es 2,1, bei Vertretern des Jugendamts 2,5, bei den Richtern und Schöffen 3,4 und bei den Anwälten der Beschuldigten sogar 7,5. Das bedeutet für die Polizei, daß über ein Fünftel der Gespräche mit den Beamten von den Opfern als "schädigend" eingestuft wurde.

Bei diesen Ausführungen muß immer berücksichtigt werden, daß es bei einem Großteil der angezeigten Sexualkontakte, die hier untersucht wurden, gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung gekommen war. Die Situation des Opfers vor dem Gericht und die Auswirkungen der Verhandlung auf das Opfer bedürfen einer zusätzlichen Analyse.

Vergleicht man die Gruppe der geschädigten Opfer (51,8%) mit der der nicht geschädigten (48,2%), dann lassen sich folgende Merkmale aufzählen, die geschädigte Opfer in signifikanter Weise unterscheiden von nicht geschädigten:

  1. Die geschädigten Opfer waren ausschließlich weiblich.
  2. Die geschädigten Opfer waren älter als die nicht geschädigten.
  3. Weil die geschädigten Opfer im Durchschnitt älter waren, war auch eine Tendenz zu beobachten, daß sie zur Zeit des Delikts mehr Sexualwissen besaßen und weitergehende sexuelle Vorerfahrungen gemacht hatten.
  4. Geschädigte Opfer hatten ihre erste feste Beziehung aber nicht in einem jüngeren Alter als die nicht geschädigten.
  5. Geschädigte Opfer waren mit relativ engeren Regelungen bezüglich des abendlichen Ausgehens aufgewachsen als nicht geschädigte.
  6. Geschädigte Opfer hatten häufiger ein gewalttätiges Verhalten des Täters erlebt als die nicht geschädigten und selbst häufiger eine abwehrende Einstellung oder abwehrendes Opferverhalten gezeigt.
  7. Die schädigenden Sexualkontakte waren weitergehend und intensiver (Beispiel: Geschlechtsverkehr) als die nicht schädigenden.
  8. Die geschädigten Opfer zeigten das Delikt schneller an, sie gaben die Anzeige häufiger selbst auf und erlebten mehr Gespräche über den Vorfall als die nicht geschädigten.
Bei den 48,2% der Fälle, bei denen das deklarierte Opfer nicht geschädigt worden war, handelte es sich vorwiegend um relativ oberflächliche und/oder einvernehmliche sexuelle Handlungen. Von vielen Fachleuten wurde bisher angenommen es gebe kaum Sexualopfer ohne Schäden. Hier muß Einiges neu überdacht werden. Erwachsene, die annehmen, daß nicht nur gewalttätige, sondern auch gewaltlose Sexualkontakte grundsätzlich schädlich seien, müssen sich mit dem Ergebnis auseinandersetzen, daß manche Kinder erst zu Opfern wurden, weil Erwachsene es so erwarteten. Manche Erwachsene haben die undifferenzierten Horrorberichte über die Folgen so verinnerlicht, daß sie sich unbefangene Reaktionen ihrer Kinder gar nicht vorstellen können. Andere Erwachsene haben selbst so viele sexuelle Probleme, daß sie zu einer unbefangenen Reaktion gar nicht fähig sind. Bedingt durch eine solche Erwartungshaltung verhalten sich manche Erwachsene dann in einer Weise, daß das Kind tatsächlich zum Opfer wird. Dieses Verhalten hat dann eine etikettierende Funktion, Es führt zum Labeling von Opfern.

Dieses sekundäre Opferwerden (sekundäre Viktimisation) kann besonders leicht nach exhibitionistischen und anderen gewaltlosen Sexualkontakten auftreten, wenn das Kind aus eine Familie kommt mit besonders engen sexuellen Einstellungen, aus einer Familie, in der viel Angst gemacht wurde vor dem "Sittenstrolch" oder aus einer Familie, wo aus allgemeiner Hilflosigkeit und Angst dramatisierend mit der Viktimisierung umgegangen wird.

Die deklarierten Opfer wurden weiterhin gefragt, ob sie es wollten, daß der Täter, dessen Handlung sie erlebt haten, bestraft wird. 55,4% der deklarierten Opfer hatten keine Meinung zu der Frage, 4,1% wollten keine Strafe und 40,5% plädierten für eine Strafe.

Weitergehend wurde gefragt, welche Strafe sie für angemessen hielten. 24,6% plädierten für Kastrieren, Todesstrafe, legale Höchststrafe oder Freiheitsentzug, 36,5% wollten eine therapeutische Behandlung (therapeutische Anstalt, medizinische, psychotherapeutische oder sozialpädagogische Behandlung) und 39,3% wollten keine, eine geringe oder eine Geldstrafe. Auffallend war, daß es zwischen der Strafforderung und dem Schaden beim Opfer keinen Zusammenhang gab. Geschädigte Opfer forderten also keine schärferen Strafen für die Täter als die nicht geschädigten.

Da die meisten angezeigten Sexualkontakte, unabhängig davon, ob sie nun gewalttätig oder gewaltlos sind, jedoch vor allem als Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen gesehen werden, sollten diese Situationen unter Einbeziehung aller wesentlichen Tat-, Opfer- und Tätermerkmale auch als Ganzheit analysiert werden. Dies geschah bei der vorliegenden Untersuchung mit Hilfe der Methode der Clusteranalyse. (Bei Clusteranalyse werden mit Hilfe eines Rechenprogramms unter Einbeziehung möglichst vieler Tatmerkmale Fallgruppen, sogenannte "cluster" gebildet. Dabei werden Fälle, die ähnlich sind, jeweils zu Gruppen zusammengefaßt.

 Abb. 9

 Darstellung derselben Fälle (N=112) im Dendogramm
 [Hier nur der Text daraus:]

 a) Aufteilung der Fälle nach dem Strafrecht bzw. nach der
polizeilichen Registrierung

Exhibitionismus                ca. 35%
Inzest u.ä.                    ca. 10%
Sex. Mißbrauch v. Kindern      ca. 45%
Sexuelle Nötigung, Vergewalt.  ca. 10%


 b) Aufteilung derselben Fälle nach der Clusteranalyse

weibliche und männliche Opfer, keine Schäden:

Cluster 1:      Exhibitionismus und oberflächliche Sexualkontakte      57,1%

des weiteren nur weibliche Opfer:

Cluster 2a:     Hoher Bekanntschaftsgrad, broken home                   7,1%

des weiteren Opfer mit Schäden:

Cluster 2b:     Pettingkontakte mit Bekannten, Opfer hat Angst          4,5%

des weiteren Drohung, Gewalt:

Cluster 3a:     Junge Opfer erleben sexuelles Bedrängen, Bedrohen      20,6%
                oder Gewalt

Cluster 3b:     Ältere Opfer erleben sexuelle Bedrohung oder Gewalt.   10,7%

 

Eine Clusteranalyse, die unter Berücksichtigung von 38 wesentlichen Opfer-, Täter- und Tatmerkmalen mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms durchgeführt wurde, erbrachte eine Aufteilung der angezeigten Sexualkontakte, die sehr stark von der üblichen strafrechtlichen Registrierung abweicht. [...]

Schon vom ersten Ansehen her ist offensichtlich, daß sich die beiden Falltypologien a und b wesentlich voneinander unterscheiden. Jeweils etwa gleich groß sind bei beiden Typologien nur die Fallgruppe der "klassischen" sexuellen Nötigung/Vergewaltigung (ca. 10% bzw. 10,7%).

Bei der Aufteilung nach dem Sexualstrafrecht folgt dann die größte Fallgruppe "sexueller Mißbrauch von Kindern (ca. 45%). Bei der Clusteranalyse zeigt sich jedoch, daß sich hier mindestens drei Viertel dieser Fälle auf sehr unterschiedliche Fallgruppen verteilt. Es konnten davon nämlich 20,6% Sexualkontakte herauskristallisiert werden, die viel gemeinsam haben mit sexueller Nötigung und Vergewaltigung. In diesen Fällen wurde ein meist jüngeres Opfer durch die Straftat stark geschädigt.

Ein anderer großer Teil der Fälle von sexuellem Mißbrauch von Kindern (ca. 15 - 20%) erwies sich als sehr oberflächlich und eher harmlos. Diese Fälle wurden in der Clusteranalyse in das Cluster 1 (insgesamt 57,1%) integriert. Das bedeutet, daß über die Hälfte der angezeigten Sexualkontakte mit Kindern aus ausgesprochen oberflächlichen und harmlosen Kontakten bestehen, die keine Schäden bei den deklarierten Opfern verursachen. Einige Autoren, die annehmen, alle oder die meisten registrierten Fälle von sexuellem Mißbrauch von Kindern enthielten Gewalt, Drohung oder Machtmißbrauch, werden hier mit Ergebnissen konfrontiert, die diese Meinung widerlegen.

Die Falltypologie, die üblicherweise mit dem Fachausdruck "Pädophilie" beschrieben wird, ist in den Clustern 1, 2a und 2b enthalten (Pädophilie = Ein Erwachsener bevorzugt Kinder bei erotischen und sexuellem Kontakt). Die Fälle von "Pädophilie" sind somit auch bedeutend seltener als es von der Größe der strafrechtlichen Fallgruppe "sexueller Mißbrauch von Kindern" her häufig geschlossen wird. Die unter P. 176 StGB angezeigten Fälle sind nur zum geringen Teil pädophile Sexualkontakte.

Weiterhin wird bei der Clusteranalyse deutlich, daß die Merkmale "Gewaltanwendung seitens des Täters" und "Schäden bei Opfer" eng miteinander verknüpft sind. Demgegenüber ist der Anteil von sexuellen Gewalttaten (im weitesten Sinne) in Wirklichkeit dreimal höher, (Cluster 3a und 3b - 20,6% + 10,7% = 31,3%) als aus der strafrechtlichen Registrierung geschlossen werden kann. (Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung - ca. 10%)

Es ist noch hinzuzufügen, daß eine Clusteranalyse bei verurteilten Fällen zu einer bedeutend kleineren Fallgruppe im Sinne des Clusters 1 führen würde, weil sehr viele Fälle der Gruppe 1 nicht zur Verurteilung kommen. Dies dürfte vor allem für Fälle von Exhibitionismus und für bestimmte Fälle von sexuellem Mißbrauch von Kindern zutreffen.

Nach den Ergebnissen der Untersuchung wäre es falsch, bei den Straftaten, die gegen die sexuelle Selbstbestimmung verstoßen, weiterhin von Opfer- und Tätertypen zu sprechen. Auch gibt es nicht das typische Sexualdelikt. Es trägt hingegen zum besseren Verständnis des Sexualdelikts bei, wenn man

  1. die deliktische Situation und Interaktion als Ganzheit betrachtet und analysiert und
  2. grundsätzlich differenziert zwischen gewalttätigen und gewaltfreien, oder gar einvernehmlichen Sexualkontakten.
Die gewalttätigen Sexualdelikte haben weitaus mehr gemeinsam mit anderen Arten von Gewaltdelikten als mit gewaltlosen, aber strafbaren Sexualkontakten. Daneben war in dieser Untersuchung kein Karrieremodell bei den Tätern erkennbar, mit einem Verhalten, welches beispielsweise regelhaft mit dem "Zeigen des Geschlechtsteils" begänne und sich steigere zu Vergewaltigung und/oder Sexualmord. Diese Erkenntnisse sind wichtig, wenn man bedenkt, wieviele der Eltern, der professionellen Erzieher und der präventiv wirkenden Fachleute immer noch glauben, jeder Exhibitionist sei ein potentieller Vergewaltiger und wenn sie dann ihr Handeln und ihre Warnungen danach ausrichten. In dem großen Bereich der exhibitionistischen und der sonstigen oberflächlichen Sexualdelikte nach Art der "Doktorspiele" kommt es nur in Ausnahmefällen zu Gewaltanwendungen.

Folgen für die Öffentlichkeitsarbeit

Allgemeine Konsequenzen

Die Ergebnisse könnten einige Denkanstöße geben zur Verbesserung der Lage der Opfer, wie beispielsweise:
  1. Es ist notwendig, unbewiesene Behauptungen und Vorurteile bezüglich der Erscheinungsformen der Sexualkriminalität mit anerkannten wissenschafltichen Methoden zu überprüfen.
  2. Gewaltlose und gewalttätige Sexualdelikte müssen zukünftig in ihrer Unterschiedlichkeit betrachtet werden (Differenzierung). Es ist nicht länger zu verantworten, daß das gefährliche Verhalten der sexuellen Gewalttäter verallgemeinernd übertragen wird auf alle sexuellen Abweichler.
  3. Den gewalttätigen und schädigenden Erscheinungsformen im Bereich der (sexuellen) Gewaltdelikte und ihren Ursachen muß entschiedener entgegengetreten werden. Dazu gehört auch eine eindringliche Aufklärungsarbeit (Verdeutlichung).
  4. Präventive Ratschläge sollten sich zukünftig an den tatsächlichen und wesentlichen Erscheinungsformen der sexuellen Gewaltkriminalität orientieren. Diffuse, angsterregende Appelle, die vor den "falschen" Situationen warnen (Beispiel: die dramatisierenden Warnungen vor dem fremden Mann oder vor dem Gliedvorzeiger) sollten unterbleiben, weil sie unter präventiven Gesichtspunkten nicht zu verantworten und erzieherisch bedenklich sind (Erziehung zu ängstlichem Verhalten). Hingegen sollte die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung bei potentiellen Opfern gefördert werden.
  5. Der Opferbegriff ("Opfer", "Geschädigte", u.ä.) sollte nur benützt werden, wenn die Person nachweislich geschädigt ist oder sich selbst als geschädigt empfindet. Auf Täterseite gibt es schon längst entsprechende Unterscheidungen (wie beispielsweise "Tatverdächtiger", "Beschuldigter", "Angeklagter", "Täter", usw.).
  6. Die Meinungen und Einschätzungen der Opfer zu ihrer eigenen Opfersituation sollten in der viktimologischen Forschung und bei der Bewertung der einzelnen Opfersituationen stärker berücksichtigt werden. Das Sprechen, Schreiben und Handeln über die Köpfe und Bedürfnisse der Opfer hinweg muß konsequent abgebaut werden.
  7. Geschädigten Opfern muß besser geholfen weden. Von den Opferschäden müssen die psychischen ernster genommen werden.
  8. Die Schäden der Opfer dürfen nicht für ideologische Zwecke mißbraucht werden. So scheint beispielsweise die Forderung nach Strafverschärfung für Sexualtäter nicht im Interesse der betroffenen Opfer zu sein. Auch sollten ungeprüft behauptete Schäden bei bestimmten Opfergruppen (z.B. bei Kindern, die einem Gliedvorzeiger begegnen) nicht herangezogen werden, um ideologische Konflikte auszutragen.
  9. Strafrechtliche Instrumente, wie der abstrakte Gefährdungstatbestand, das Offizialdelikt, u.ä. müssen im Bereich mancher Sexualstraftatbestände auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden. Strafrechtsbestimmungen, die durch ihre Existenz Opfer sekundär schädigen (können) und sie selten schützen, sollten ebenfalls zur Diskussion gestellt werden.
  10. Strukturelle Bedingungen und individuelle Erscheinungen, die (sexuele) Gewaltanwendung fördern, sollten verstärkt bekämpft und öffentlich kritisiert werden. Menschenfreundliche Techinken der Konfliktlösung sollten weiter entwickelt und vermittelt werden.
  11. Dringend notwendig ist eine breite und effektive Öffentlichkeitsarbeit gegen (sexuelle) GEwaltanwendung und für sexuelle Selbstbestimmung. Dabei sollte unnötige Angst abgebaut und gleichzeitig vor den tatsächlichen Gefahren gewarnt werden.

[...]

Bedenken gegen die Dramatisierung mit dem Schreckbild vom Sexualmörder bei Kindern

Häufig erwecken die an Kinder gerichteten Aufklärungsbroschüren bei den Kindern und ihren Eltern den Eindruck, als sei der Sexualmörder eine allgegenwärtige Gefahr. Im Jahre 1980 wurden sieben Kinder (=0,00005% der Kinder in der Bundesrepublik) Opfer eines Sexualmordes. Damit sollen diese sieben Fälle keineswegs verharmlost werden, selbst ein einziger Sexualmord wäre zuviel. Man sollte sich aber trozdem bewußt machen, daß das durchschnittliche Kind mit solch einem - glücklicherweise - seltenen Ereignis mit höchster Wahrscheinlichkeit nie in Berührung kommt, es sei denn über die häufigen Schreckensberichte in der Sensationspresse. [...]

Da eines der erklärten Ziele präventiver Arbeit die Verhinderung und Eindämmung psychischer Schäden beim (potentiellen) Opfer ist, ergab sich nach sorgfältiger Prüfung, daß die aggressiv-sadistischen Sexualdelikte nicht aktiv in die Erziehung, in den Unterricht oder die kriminalpolizeiliche Beratungssituation getragen werden sollten,

Würde man diese Delikts- und Tätergruppe berücksichtigen, so bestünde die Gefahr, daß diese dramatischen Informationen die gesamte Thematik überlagerten. Alle "Kinderfreunde" und "Gliedvorzeiger" erschienen dann als potentielle Sexualmörder und Sexualität als eine lebensgefährliche Sache. [...] Kriminalpolizeiiche Beratungsbeamte, Lehrer und Eltern sollten den Kindern dieser Altersgruppe lediglich auf deren Fragen oder aus sonstigem aktuellen Anlaß folgende Sachinformationen vernitteln:

  1. Diese gefährlichen Täter gibt es äußerst selten und das Kind wird in seinem Leben wahrscheinlich nie auf einen solchen treffen. Die Zeitungen übertreiben hier bei der Berichterstattung.
  2. Als präventiver Ratschlag: Sollte das Kind in solch eine aussichtslos erscheinende Gefahrensituation geraten, dann ist es vielleicht gefährlich, nur zu schreien. Damit könnte der Täter zum Würgegriff provoziert werden, womit er das Opfer "still" machen, eventuell töten will. Besser ist es, wenn das Kind versucht, möglichst schnell zu anderen Menschen zu laufen.

[...]